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Nicht abgebaute frühkindliche Reflexe bei Kindern

Junge hängt über dem Tisch in einer Therapiepraxis. Die Füße liegen auf dem Stuhl.
Überflüssige Reflexe aus dem Babyalter und Schwierigkeiten in Kita und Schule können zusammenhängen. / Bild © Photographee.eu, Adobe Stock

Ob Tolpatschigkeit, Lernschwierigkeiten und Aufmerksamkeitsprobleme – nicht rechtzeitig gehemmte frühkindliche Reflexe könnten nach Meinung vieler therapeutischer Fachkräfte deinem Kind Steine in den Weg legen. 

Das Wichtigste in Kürze

  • Wenn bestimmte Ur-Reflexe bleiben, horchen therapeutische Fachkräfte auf.
  • Restreflexe könnten Kinder vielfältig behindern.
  • Die Ursachen können in der Schwangerschaft, der Geburt oder der Babyzeit liegen.
  • Es gibt einen Zusammenhang zwischen Restreflexen und Neurodivergenz (ADHS, Autismus, LRS und andere). Aber nicht jedes Kind mit Restreflexen ist neurodivergent und nicht jedes neurodivergente Kind hat Restreflexe.
  • Manche therapeutischen Behandlungsansätze versuchen nicht abgebaute Reflexe nachträglich zu „integrieren“ und beeinträchtigten Kindern so zu helfen.

Persistierende primitive Reflexe

Wenn einzelne oder mehrere frühkindliche Reflexe nicht innerhalb der erwarteten Zeit verschwinden, spricht man von „persistierenden“, also fortdauernden Reflexen.

Normalerweise hemmt das reifende Nervensystem die primitiven Reflexe, sobald sie nicht mehr gebraucht werden, und „integriert“ sie in neue, komplexere Schaltkreise. Sie sind dann nicht mehr auslösbar.

Das passiert in der Regel ganz automatisch, klappt aber nicht immer perfekt. Wenn einzelne oder mehrere Reflexe:

  • ausbleiben
  • ganz oder teilweise bestehen bleiben oder
  • sich nur einseitig zeigen,

kann das auf neurologische Entwicklungsauffälligkeiten wie eine anders verlaufende, eine verzögerte Reifung oder eine Schädigung des zentralen Nervensystems hindeuten. Beides kann zu dauerhaften Problemen führen. 

Dennoch: Wahrscheinlich sind viele Erwachsene von nicht abgebauten Reflexen betroffen. Die meisten haben bewusst oder unbewusst Wege gefunden, damit umzugehen.  

Mögliche Auswirkungen auf die Entwicklung

Persistierende frühkindliche Reflexe können das betroffene Kind und später den Erwachsenen in vielfältiger Weise behindern, weil „Restmuskelbewegungen“ andere Abläufe stören oder überlagern.  

Je nach betroffenem Reflex könnte das Kind beispielsweise Schwierigkeiten mit dem Krabbeln, Schwimmenlernen oder der Körperhaltung haben. Auch Konzentrationsprobleme können laut therapeutischen Fachkräften von noch aktiven frühkindlichen Reflexen herrühren, ebenso wie Schwierigkeiten, einen Stift „korrekt“ zu halten.

Je nach Persönlichkeit und Umfeld des Kindes können damit verbundene negative Erfahrungen zu psychischen Problemen im Jugend- und Erwachsenenalter führen.  

Mehr zu konkreten Symptombildern und den möglicherweise beteiligten Reflexen findest du weiter unten. 

Aber woran kann es liegen, dass Reflexe nicht oder nur teilweise abgebaut oder gehemmt werden? 

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Mögliche Ursachen

Bestimmte Belastungen während Schwangerschaft, Geburt oder Stillzeit können natürliche Vorgänge empfindlich stören. Dazu zählen beispielsweise:

  • schwere Nährstoffmängel, Erkrankungen, Suchtmittel, traumatische oder dauerhaft belastende Zustände während der Schwangerschaft
  • Sauerstoffmangel unter der Geburt oder Geburtsinterventionen wie Einleitungen, Kaiserschnitt oder Saugglocke
  • Erkrankungen, Nährstoffmängel oder traumatische Erfahrungen im Babyalter

Beispiele persistierender Reflexe und mögliche Folgen

Es folgen wichtige frühkindliche Reflexe, die möglicherweise zu häufig anzutreffenden psychomotorischen Problemen führen können, wenn sie weiter voll oder teilweise aktiv bleiben:

Furcht-Lähmungsreflex und Moro-Reflex könnten zu Reisekrankheit, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, schwachem Immunsystem, Angst, Stimmungsschwankungen und Problemen mit der Hand-Augen-Koordination führen, wenn sie nicht vollständig gehemmt werden.

ASNR (Asymmetrisch tonischer Nackenreflex) könnte ungehemmt zu Problemen beim Krabbeln, erschwerten Schreibfähigkeiten, Schwierigkeiten, mit den Augen zu folgen, fehlender Händedominanz und Links-Rechts-Verwirrung führen.

STNR (Symmetrisch tonischer Nackenreflex) könnte ungehemmt zu Problemen beim Krabbeln, schlechter Haltung, W-Sitz, Ungeschicklichkeit, Aufmerksamkeitsproblemen und Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben führen.

TLR (Tonischer Labyrinth Reflex) könnte unintegriert zu Problemen beim Krabbeln, schlechter Körperhaltung, Seh- und Hörverarbeitungsproblemen und Schwierigkeiten bei der Raumwahrnehmung führen.

SGR (Spinaler Galant-Reflex) könnte ungehemmt zu Problemen bei der motorischen Entwicklung, verkrümmter Wirbelsäule, Aufmerksamkeitsproblemen, Bettnässen nach dem 5. Lebensjahr und Berührungsempfindlichkeit führen.

Greifreflex könnte ungehemmt zu verzögerten feinmotorischen Fähigkeiten, Schwierigkeiten beim Schreiben, Probleme beim Anziehen oder dem Essen mit Besteck und Berührungsempfindlichkeit führen.

Manche primitiven Reflexe wie der Greifreflex verschwinden bei keinem Menschen vollständig. Sie bleiben ein Leben lang gespeichert und werden lediglich gehemmt. In außergewöhnlichen Zuständen wie zum Beispiel bei bestimmten Demenzformen, nach Traumata oder Unfällen könnten sie plötzlich wieder ausgelöst werden. Der Körper fiele sozusagen als Notprogramm zurück in alte Muster.

Mehr zu persistierenden Reflexe auf Instagram

Die Sonder- und Heilpädagogin Mag. Juliane Beyerl postet auf ihrem Kanal praxis_entwicklungsförderung immer wieder Wissenswertes rund um frühkindliche Reflexe.

Persistierende Reflexe und ADHS oder Autismus

Mehrere kleinere Studien wie diese deuten darauf hin, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen persistierenden frühkindlichen Reflexen und ADHS oder Autismus geben könnte. Beide Diagnosen sind durch offiziell gültige Kriterien (bisher) genau abgegrenzt, gehören aber zum neurodivergenten Spektrum. Das heißt, wie stark einzelne Symptome ausgeprägt sind und ob beides einzeln oder zusammen auftritt, ist ganz unterschiedlich – die Übergänge sind fließend.

Ob die nicht abgebauten Reflexe Ursache, Begleitsymptome oder Folge der Entwicklungsbesonderheiten des Nervensystems sind, ist noch nicht abschließend geklärt. 

Sehr wahrscheinlich wird es in den kommenden Jahrzehnten mehr Forschung dazu geben, auch, weil die Zahlen betroffener Kinder in den westlichen Nationen steigen. 

Neurodivergent, neurodivers, neurotypisch?
Menschen, deren Nervensystem anders vernetzt ist als bei der Mehrheit, nennt man neurodivergent. Sie weichen also von der „Norm“ ab. Wie sehr, ist individuell verschieden, deshalb spricht man von „Spektrum“. Möglicherweise fallen mehr als 20 Prozent – vielleicht noch mehr – aller Menschen in diese Kategorie.

Menschen, deren Gehirn „normal“ tickt, heißen neurotypisch. Alle zusammen sind neurodivers, also eine bunte Mischung aus möglichen Vernetzungsformen, die alle ihre individuellen Vor- und Nachteile haben.

(neuro = Nerv)

Kann man frühkindliche Reflexe nachträglich abbauen?

Möglicherweise. Es gibt Ansätze, mit denen sich motorische Defizite und andere Schwierigkeiten zumindest lindern lassen. Manche der Maßnahmen sind schulmedizinisch nicht anerkannt und werden von medizinischen Fachkräften kritisiert und von therapeutischen Fachkräften fundiert verteidigt

Nachfolgend stellen wir dir alle uns bekannten Therapiemöglichkeiten vor.

Abklärung und Therapiemöglichkeiten

Hast du den Verdacht, Probleme deines Kindes könnten auf nicht-integrierte Reflexe zurückzuführen sein? Dann solltest du nicht warten. Reflexe lassen sich bis zu einem gewissen Grad nachträglich integrieren. Je früher dein Kind Unterstützung bekommt, desto besser für seine weitere Entwicklung!

Auffälligkeiten jeder Art darfst du immer früh kinderärztlich abklären lassen. Dafür gibt es die U-Untersuchungen. Sprich deine Bedenken am besten offen an. Bei Bedarf können geschulte Fachkräfte die neurologische Entwicklung deines Kindes durch spezielle Tests genauer untersuchen. Aber auch in der Kinderarztpraxis bekommst du Verordnungen für Therapien wie Ergotherapie oder Physiotherapie

Behandlung mit Reflexintegrationstraining

Reflexintegrationstraining, bei dem Restreflexe mit bestimmten einfachen Übungen gehemmt und integriert werden sollen, verspricht gute Ergebnisse. Schulmedizinisch gesehen gibt es zwar kaum Beweise dafür, dass es funktioniert. Tausende Erfahrungsberichte und ein paar kleine Untersuchungen wie diese Studie lassen betroffene Kinder und ihre Eltern dennoch hoffen. Auf dem Markt gibt es unterschiedliche Anbieter. In Deutschland hat sich das Bewegungsprogramm RIT etabliert.

Viele Krankenkassen fördern RIT-Bewegungsprogramme und Zertifizierungen für Kitas und Grundschulen. Private Therapien müssen von Eltern in der Regel selbst getragen werden. Es gibt auch Online-Kurse für Eltern, die jedoch viel Geld kosten können.

Behandlung mit Ergotherapie, Osteopathie oder Physiotherapie

Einige ergotherapeutisch, osteopathisch und physiotherapeutisch tätigen Fachkräfte integrieren Maßnahmen zur Reflexintegration in ihre Therapien und haben vorher eine Zusatzausbildung absolviert. Aber auch manche Übungen, die in regulären Ausbildungen vermittelt werden, ähneln denen der Reflexintegration. 

Ergotherapie und Physiotherapie werden in der Regel von den Krankenkassen übernommen und in der Kinderarztpraxis verschrieben. Am besten fragst du vorher nach, inwieweit nicht integrierte Reflexe in der Praxis deiner Wahl getestet werden und ob sie die nachträgliche Integration derselben aktiv fördern.

Behandlung mit Cranio-Sakral-Therapie

Die Cranio-Sakral-Therapie versucht, Blockaden und Verspannungen zu lösen, die das kindliche Nervensystem am Reifen hindern können. 

Sie gehört zu den osteopathischen Behandlungen, aber nicht alle Osteopathinnen und Osteopathen haben diese Zusatzausbildung absolviert. Auch andere medizinische Fachkräfte können sich dafür nachträglich qualifizieren, deshalb nennen wir diese Therapieform separat.

Wissenschaftlich anerkannt ist die Methode momentan nicht, deshalb ist sie eine Selbstzahler-Leistung. Es gibt jedoch kleinere Studien, die ihre Wirksamkeit bei abweichenden neuronalen Entwicklungen zu belegen scheinen. 

Die Behandlungen zielen nicht darauf ab, gezielt Restreflexe zu hemmen, sondern versuchen, blockierte Energien zu lösen. Idealerweise können so bisher gehemmte Prozesse ablaufen, die das Nervensystem nachreifen lassen.

Fragebögen für Kinder und Erwachsene

Wenn du wissen möchtest, ob dein Kind (oder du selbst) persistierende Reflexe hat, die sein Nervensystem beeinträchtigen, findest du online Fragebögen. Zwei Beispiele:

Am besten besprichst du die Fragebögen danach mit einer therapeutischen oder medizinischen Fachkraft. Sie dienen nicht der Selbstdiagnose, sondern lediglich deiner Information.

Private Übungen zur Reflexintegration für Kita- und Schulkinder

Auch wenn Übungen zur nachträglichen Integration primitiver Reflexe nicht zum schulmedizinisches Repertoire gehören, kann es keinesfalls schaden, wenn du mit deinem Kind regelmäßig turnst, solange es Freude daran hat. Die meisten Videos findest du in englischer Sprache. Hier ist eine der wenigen deutschen Anleitungen:

Fazit

Wenn Reflexe bleiben, obwohl sie nicht sollten, ist das immer ein Grund weiterzuforschen. Wie stark ein Kind jedoch durch solche Restreaktionen beeinträchtigt ist und ob überhaupt, ist individuell unterschiedlich. 

Die erste Anlaufstelle ist daher immer die Kinderarztpraxis. Scheue dich nicht, deinen Verdacht dort anzusprechen und notfalls eine Zweitmeinung einzuholen. Wichtig ist, dass dein Kind Hilfe bekommt, wenn es sie braucht – mit welchem therapeutischen Ansatz ist dann eher zweitrangig.

Quellen

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✔ Inhaltlich geprüft am 04.12.2024
Dieser Artikel wurde von Emely Hoppe geprüft. Wir nutzen für unsere Recherche nur vertrauenswürdige Quellen und legen diese auch offen. Mehr über unsere redaktionellen Grundsätze, wie wir unsere Inhalte regelmäßig prüfen und aktuell halten, erfährst du hier.

Veröffentlicht von Anke Modeß

Als waschechte Berlinerin und späte Mutter eines Schulkindes schreibt Anke seit 7 Jahren über Themen, die Babyeltern im Alltag beschäftigen - am allerliebsten mit einer Prise Humor.

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