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„Gefühlsstarke Kinder“: Ganz viel von allem

Ein kleiner Junge ist beim Umblättern eines Pappbuches begeistert
Wenn alle Gefühle deines Kindes überschäumen, ist es vielleicht „gefühlsstark“. / Bild © Sasenki, Adobe Stock

Die Bestseller-Autorin Nora Imlau hat den Begriff „gefühlsstarke Kinder“ geprägt und ihr Buch „So viel Freude, so viel Wut!“ in unzähligen Interviews erläutert. Wir fassen ihre wichtigsten Aussagen für Eltern betroffener Kinder zusammen. 

Viele Eltern und pädagogische Fachkräfte kennen Nora Imlau und ihre Bücher über das Zusammenleben mit Kindern. Die Autorin und Journalistin ist selbst vierfache Mutter. Eins ihrer Kinder passte in keine bekannte Kategorie. Deshalb ersann sie ein neues Konzept und schrieb ein Buch* darüber –  das etliche ebenfalls Betroffene erleichtert aufatmen ließ. Endlich hatten sie eine Erklärung und Tipps für ein Verhalten, das ihren Alltag und den ihres Kindes so herausfordernd macht.

Aber eins nach dem anderen …

Was sind „gefühlsstarke Kinder“?

Gefühlsstarke Kinder sind laut der Autorin Kinder, die ihre Emotionen besonders intensiv erleben und ausdrücken. Sie sind in der Regel sehr feinfühlig und reagieren stärker, weil sie ihre aufwallenden Gefühle und Impulse – anders als „regulationsstarke“ Kinder – nur schwer selbst in angemessene Bahnen lenken können. 

Kurz: Sie erleben und äußern Freude, Trauer, Wut oder Angst in einem auffällig verstärktem Ausmaß. Es fällt betroffenen Kindern häufig schwer, die Emotion wieder gehen zu lassen. Für ihr Umfeld kann das schwer nachzuvollziehen und besonders herausfordernd sein. 

Diese Kinder – laut Imlau 1 von 7 – möchten eng begleitet werden. Im Umgang mit ihnen lernen Erwachsene viel über sich selbst und andere. Das macht das Miteinander mit einem gefühlsstarken Kind anstrengend und wertvoll zugleich.

Aber wann gilt ein Kind als gefühlsstark? Und ist mein Kind es auch?

8 Merkmale gefühlsstarker Kinder nach Nora Imlau

Gefühlsstärke kann sowohl vom Kind als auch von anderen unterschiedlich empfunden werden, immer abhängig davon, wie die Menschen um das Kind herum selbst empfinden und mit ihren Gefühlen und denen anderer umgehen. So wird ein Kind, von dem viel Selbstbeherrschung verlangt wird, wahrscheinlich mehr auffallen und mehr leiden als eines, dessen Gefühlsausbrüche weniger bewertet werden.

Dennoch hat Imlau Anzeichen definiert, an denen sich interessierte Eltern orientieren können. Diese 8 typischen Merkmale beschreiben viele gefühlsstarke Kinder demzufolge gut:

1. Sie erleben und äußern Gefühle besonders intensiv
2. Sie verfolgen eigene Ideen sehr ausdauernd und hartnäckig
3. Sie sind überdurchschnittlich sensibel, leicht reizüberflutet und sehr verletzlich
4. Sie nehmen ihre Umwelt ganz genau wahr
5. Sie lieben und hassen Grenzen gleichermaßen
6. Sie verfügen über eine scheinbar endlose Energie und schlafen weniger
7. Sie tun sich sehr schwer mit Veränderungen und Übergängen
8. Sie sind oft sehr nachdenklich, philosophisch und grüblerisch

Auch wenn nicht alle Merkmale zutreffen, kann dein Kind dennoch gefühlsstark sein. Wichtig ist, wie du es und wie es sich selbst empfindet.

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Wichtig: Gefühlsstark ist keine offizielle Diagnose!

„Gefühlsstark“ ist ein wertschätzende, umgangssprachliche Bezeichnung, also ein Softlabel und keine medizinische oder psychologische Diagnose. 

Stattdessen will Nora Imlau aufzeigen, warum sich manche Kinder emotionsbezogener äußern und was sie brauchen, um kraftvoll durchs Leben zu gehen. 

Kindliche Persönlichkeiten sind vielfältig. Und Gefühlsstärke ist eben auch eine einzigartige Gabe, mit der man umzugehen lernen kann, auch wenn sie sich für das Kind selbst zunächst belastend anfühlen mag.

Dennoch sollten Eltern keine vorschnellen Schlüsse ziehen, weil sie sonst vielleicht Wichtiges übersehen:

Keine Angst vor Diagnostik

Gefühlsstärke muss nicht, kann aber mit Neurodiversität einhergehen – also einem von der Norm abweichenden Nervensystem, welches das Leben und Erleben in unserer Gesellschaft besonders herausfordernd machen können. 

Deshalb gilt: Wenn bei deinem Kind der Verdacht auf ADHS, Autismus oder eine andere klar definierte Entwicklungsbesonderheit besteht, solltest du dich nicht vor einer Diagnostik bei spezialisierten Fachkräften scheuen. 

Um Stigmatisierung geht es nicht. Oft braucht es eine konkrete Diagnose, um gezielt unterstützen zu können. Am besten ist es, wenn die notwendigen Untersuchungen im Kitaalter abgeschlossen sind, damit das Kind schon beim Übertritt in die Schulphase intensiv begleitet werden kann.

Aber schon von Anfang an darfst du die intensive Gefühlswelt deines Kindes als Teil seiner Persönlichkeit annehmen und es bestmöglich unterstützen:

Wie begleite ich mein gefühlsstarkes Kind am besten?

Ein gefühlsstarkes Kind zu begleiten, ist herausfordernd. Dass viele Eltern selbst betroffen sind, macht es nicht unbedingt leichter. Der erste Schritt auf dem Weg zu liebevoller Begleitung der intensiven Gefühle ist also:

Lerne, dich selbst in schwierigen Situationen so zu regulieren, dass du nicht ähnlich extrem reagierst wie dein Kind. Denn unser Verhalten als Eltern kann die Gefühlsspitzen unserer Kinder entweder ausgleichen oder befeuern.

Dein gefühlsstarkes Kind braucht dich noch sehr, um mit seinen überbordenden Gefühlen klarzukommen. Die Selbstregulation kostet es weitaus mehr Energie als andere. Liebe und Verständnis statt Ablehnung und Druck tun deinem Kind und dir jetzt besonders gut. 

Folgende Hilfen kannst du deinem Kind anbieten, um die Emotionen in den Griff zu bekommen:

  • Intensiver Körperkontakt, Stillen oder Schnuller
  • Bewegung wie Toben
  • Stimulation, also Ablenkung, beispielsweise durch einen Ausflug
  • Wegnahme von Stimulation, also vorübergehend eine bewusst reizarme Umgebung

Je nach Situation kann mal das eine, mal das andere helfen. Gelingen wird es nicht immer, am besten nähert ihr euch in kleinen Schritten und probiert es einfach aus. Wenn du dein Kind gut kennst, wirst du wissen, welche Objekte oder Situationen es eher beruhigen und was es eher aufwühlen könnte.

Und auch, wenn eine Situation mal wieder eskaliert ist, gilt …

Niemand ist schuld

Schuldgefühle und Gefühlsstärke gehen oft Hand in Hand. Denn nicht nur die Eltern fragen sich, ob sie für die starken Emotionsäußerungen ihres Kindes irgendwie mitverantwortlich sind. Auch betroffene Kinder können an ihrer Wirkung auf andere und anhand der Reaktionen von außen regelrecht verzweifeln. 

Richtig ist: Gefühlsstärke ist meist angeboren. Das Emotionszentrum des Gehirns – die Amygdala – ist größer und aktiver als bei ausgeglicheneren Personen. Niemand kann etwas dafür und es bringt nichts, dagegen anzukämpfen. Wenn Kinder und Eltern die Besonderheit als eine Gabe annehmen und damit umgehen lernen, geht es allen besser. 

Wann zeigt sich Gefühlsstärke?

In der Regel erkennen Eltern schon im Babyalter, dass ihr Kind weniger in sich ruht als der Durchschnitt. Zu diesem Zeitpunkt lässt sich jedoch noch nicht sagen, in welche Richtung es sich entwickeln wird. 

„So wirklich dauerhaft davon ausgehen, dass ein Kind von seinem Wesen und Temperament gefühlsstark ist, kann man aus meiner Sicht oft erst, wenn das Ende der Autonomiephase naht, also so mit vier, fünf Jahren.“

Nora Imlau im Interview mit familie.de

Es kann also eine Phase sein, muss aber nicht. Da Diagnosewege lang sind, ist es sinnvoll, Beobachtungen frühzeitig mit dem anderen Elternteil oder weiteren Bezugspersonen zu teilen und achtsam zu bleiben. In Kita oder Arztpraxis wird man dich weiter beraten können. 

Die weitere Entwicklung gefühlsstarker Kinder

Manche Eltern fragen sich: „Wann wird es besser?“. Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Die meisten Kinder lernen irgendwann, sich bis zu einem gewissen Grad selbst zu regulieren. Sie brauchen nur deutlich länger dazu als „regulationsstarke“ Kinder.

Laut Imlau durchlaufen gut begleitete, gefühlsstarke Kinder die spätere Pubertätsphase mitunter leichter als jene, die bisher weniger Probleme mit der Selbstregulation hatten. Sie wären also schon früher aus dem Gröbsten heraus – vielleicht, weil sie wegen ihrer besonderen Hirnstruktur schneller in die Pubertät kamen. Vielleicht aber auch, weil sie den permanenten Ausnahmezustand schon kennen und idealerweise bereits Strategien entwickelt haben, damit umzugehen. Weg sind die starken Gefühle aber auch dann nicht. 

Fazit

„Gefühlsstarke Kinder“ ist also eine von der Buchautorin Nora Imlau erfundene Bezeichnung für äußerst temperamentvolle Kinder, die nicht so recht in eine andere bekannte Kategorie zu passen scheinen. 

Das Konzept kann hilfreich sein, um Kinder mit diesem Wesenszug verstehen und bestmöglich unterstützen zu können. Es gibt jedoch deutliche Überschneidungen mit anderen Softlabels wie „hochsensibel“ oder „bedürfnisstark (high need)“ und ebenso große Schnittmengen mit offiziellen Diagnosen wie ADHS oder Autismus, die nur von Fachkräften diagnostiziert werden dürfen. 

Weil Imlaus Konzept zu vorschneller Selbstdiagnose einladen könnte, wird es auch kritisiert. Vielleicht hilft es dir und deiner Familie dennoch, euren individuellen Weg als Familie zu finden.

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Quellen

Veröffentlicht von Anke Modeß

Als waschechte Berlinerin und späte Mutter eines Schulkindes schreibt Anke seit 7 Jahren über Themen, die Babyeltern im Alltag beschäftigen - am allerliebsten mit einer Prise Humor.

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