Close Babelli.deBabelli.de

Gender Disappointment: Wenn „Hauptsache gesund!“ nicht ausreicht

Gender Disappointment: Frau in blauer Wolke
Rosa oder Blau spielt für manche eine größere Rolle, als ihnen lieb ist. / Bild © Maxime, Adobe Stock

Für Außenstehende klingt es oft befremdlich: Unglücklich, weil das erwartete Baby nicht das Wunschgeschlecht hat? Bei manchen werdenden Eltern entwickelt sich daraus aber ein echter Leidensdruck, der die gesamte Schwangerschaft überschatten und ernste Folgen haben kann. Was hinter dem sogenannten Gender Disappointment steckt und wie Betroffene und Nahestehende damit umgehen sollten.

„Was wird es denn?“

Diese Frage schließt sich den Glückwünschen zur Schwangerschaft meist direkt an. Und oft können sie die werdenden Eltern auch beantworten – wenn sie es denn preisgeben möchten. Nur die wenigsten Paare lassen sich tatsächlich erst bei der Geburt vom Geschlecht überraschen. Die meisten wollen so früh wie möglich wissen, ob sie einen Jungen oder ein Mädchen erwarten. Dabei es geht in der Regel gar nicht (nur) um die Auswahl der Wandfarbe fürs Kinderzimmer oder der Babyausstattung. 

Vielen werdenden Eltern erleichtert eine konkrete Vorstellung vom Nachwuchs das vorgeburtliche Bonding und die mentale Vorbereitung auf die zukünftige Familienkonstellation.

Geschlechtspräferenzen sind normal

Dabei haben viele Frauen und Männer – wenn sie ganz ehrlich zu sich selbst sind – mehr oder weniger starke Geschlechtspräferenzen, was den Nachwuchs angeht. Nicht umsonst existieren so viele Ammenmärchen und inzwischen auch wissenschaftliche Studien darüber, wie man das Geschlecht schon bei der Zeugung beeinflussen könnte.

Entpuppt sich der Nachwuchs dann als „das andere Geschlecht“, ist eine kurze Ernüchterung darüber auch nicht unüblich. In den allermeisten Fällen weicht diese aber schnell wieder der Vorfreude auf das Baby und das Geschlecht ist letzten Endes völlig egal. 

Nur manchmal… manchmal bleibt die Enttäuschung über das Geschlecht, wächst zu einem regelrechten Schmerz heran und legt sich wie ein Schatten auf die Schwangerschaft und die Zukunft. Insbesondere dann, wenn es definitiv kein weiteres Kind, also keinen weiteren „Versuch“ geben wird. Einen beeindruckend ehrlichen Blick in das Gefühlsleben einer Betroffenen bekommt ihr hier und hier. Wie kann es so weit kommen?

<span style="align:center; font-size: 18px">Video-Empfehlung:</span> <style> native-player { aspect-ratio: 16/9; display: block; } </style> <script type="text/javascript" src="//syndication.target-video.com/native-player.js" async=""></script> <native-player></native-player>

Gender Disappointment: Mögliche Ursachen

Gender Disappointment, übersetzt also Geschlechts-Enttäuschung, kann verschiedene und ganz individuelle Ursachen haben. 

Am einfachsten zu erklären ist sie in den Regionen der Erde, bei denen es kulturell-bedingt eine Präferenz für ein bestimmtes Geschlecht gibt. In armen Ländern beispielsweise sind häufig Jungen „wünschenswerter“ als Mädchen, da sie wirtschaftliche Vorteile haben. Bildung und Arbeit sind für Frauen in diesen Regionen häufig nicht zugänglich. Ihre Chance auf Wohlstand ist viel geringer als für Jungen. Ist bei einer späteren Hochzeit auch noch eine Mitgift üblich, belastet das die Familie zusätzlich. Deshalb ist ein Mädchen dort selten ein Grund zur Freude.

Neben wirtschaftlichen Gründen sind es häufig religiöse Überzeugungen, die in vielen Teilen der Erde Jungen bevorzugen und damit den Wunsch nach einem Sohn fördern.

Aber wie ist das bei uns? In westlichen Kulturen lässt sich Gender Disappointment nicht durch Kultur, Ökonomie und Religion begründen. Hier muss es andere Ursachen für ein Wunschgeschlecht geben.

In der Diskussion stehen dabei folgende Möglichkeiten:

  • Eigene Erfahrungen und Traumata: Schlechte Erfahrungen, beispielsweise aus der eigenen Kindheit, mit einem bestimmten Geschlecht könnten die Abneigung gegen eben dieses erklären. Konkrete Beispiele wären eine schlechte Beziehung zu den eigenen Schwestern/Brüdern oder seelischer und/oder körperlicher Missbrauch durch Frauen oder Männer.

    Gleichzeitig können auch positive Erfahrungen mit einem bestimmten Geschlecht (gute Beziehung zu Geschwistern, nahe Bindung zu einem Elternteil, das erste Kind) den Wunsch fördern, genau diese Erfahrung zu wiederholen.
  • Stereotype Geschlechterbilder (“gender essentialism”): Das heißt, die Überzeugung, dass konkrete Eigenschaften, Fähigkeiten und Verhaltensweisen nur auf ein bestimmtes Geschlecht zutreffen. Beispiel: Mädchen sind empathisch, sensibel, ruhig, brav und strebsam. Jungen sind wild, selbstbewusst, unkompliziert und robust. Auch negative Stereotype, wie “Mädchen sind Zicken” oder “Jungs sind Schläger”, gehören dazu.

    (Wie kommt es zu so einem Denken? Wenn du mehr darüber wissen willst, empfehlen wir dir diesen Artikel der Bundeszentrale für Kinder- und Jugendmedienschutz: Wie entstehen Geschlechtsstereotype und wie wirken sie sich aus?)
  • Identifikation mit dem eigenen Geschlecht: Frauen wünschen sich häufig Mädchen und Männer häufig Jungen, weil sie meinen, sich dann besser in ihr Kind hineinversetzen und so eine engere Bindung zu ihm aufbauen zu können.
  • Gender-Balance: Hat das Paar bereits Kinder, soll der neue Nachwuchs häufig die Geschlechterbalance in der Familie ausgleichen. Gibt es also bereits einen Sohn, wird ein Mädchen ersehnt und andersherum. Viele Paare haben den Wunsch, das Erziehen und Heranwachsen beider Geschlechter erleben zu dürfen und diesbezüglich “auf keine Erfahrung verzichten” zu müssen.

Dazu kommen bestimmte persönliche Merkmale, die Gender Disappointment wahrscheinlicher machen. So scheinen junge Eltern, vorwiegend Frauen, zwischen 19 und 25 Jahren eher betroffen zu sein, ebenso wie Menschen mit neurotischer, extrovertierter und gewissenhafter Persönlichkeit.

Die Gründe für Gender Disappointment können also vielfältig und den Betroffenen selbst mehr oder weniger bewusst sein. Sie können einzeln oder in Kombination auftreten und werden durch idealisierte Familienbilder oder Trends in den sozialen Medien (zum Beispiel Boy Moms) vermutlich zusätzlich befeuert.

Ein Hinweis an die nicht-betroffenen Leserinnen und Leser

Hinter Gender Disappointment steckt mehr, als man im ersten Moment denken könnte. Zu schnell werden die Betroffenen als „oberflächlich“ und „undankbar“ vorverurteilt. Von den tieferen Gründen für die Enttäuschung, die nicht selten auf persönliche Traumata zurückgehen, weiß man meist nichts.

Sollte sich dir jemand anvertrauen, dann gehe sensibel mit dieser Information um. Dass du diesen Text hier liest, zeigt bereits, dass du Interesse an den Hintergründen hast. Das ist super! Sei deinem Gegenüber ein guter Zuhörer oder eine gute Zuhörerin und zeige Mitgefühl, auch wenn du den starken Geschlechterwunsch vielleicht nicht nachvollziehen kannst. Den Betroffenen hilfst du damit schon sehr.

Von der Enttäuschung zur Trauer zur Depression

Betroffene sprechen häufig davon, nach der anfänglichen Enttäuschung in einen Trauerzustand verfallen zu sein. Eine Trauer um den „Verlust des ersehnten Kindes“ oder darüber, dass ihnen eine bestimmte Erfahrung im Leben verwehrt bleibt, nach der sie sich vielleicht schon seit Jahrzehnten sehnen.

Im schlimmsten Fall schaffen sie es nicht, eine Bindung zu dem ungeborenen Baby aufzubauen, was sich negativ auf den weiteren Verlauf der Schwangerschaft und die Geburt, sowie später das Stillen und die Mutter-Kind/Vater-Kind-Bindung auswirken kann.

Dazu kommen Schuld- und Schamgefühle. Dass ihre starke emotionale Reaktion auf das Geschlecht des Babys nicht rational und nicht „vernünftig“ ist, ist den Betroffenen in der Regel bewusst. Trotzdem können sie an ihren Gefühlen (allein) nichts ändern. 

All dieser emotionale Ballast kann, wenn dem nicht entgegengesteuert wird, in einer echten Depression enden, die dann das Leben aller Beteiligten belastet.

Und nicht nur das. Psychotherapeutin Katrin Hofer warnt in einem Interview mit Der Standard davor, dass ungelöste Gender Disappointment Konflikte das Kind belasten und es später in eine Identitätskrise stürzen könnte.

Mehr zum Thema

Wie also mit Gender Disappointment umgehen?

Der wichtigste Rat an Betroffene lautet: Sprich darüber! Leider ist das meist leichter gesagt als getan. Die Angst vor den Reaktionen ihrer Mitmenschen und das Schamgefühl machen es Betroffenen meist schwer, ihre Gefühle zu teilen und sich Hilfe zu suchen. Trotzdem sollte diese Hürde genommen werden, zum Wohle der eigenen Gesundheit und der des Babys, sowie der so wichtigen Mutter-Kind-Bindung.

Wenn du professionelle Hilfe brauchst

Fühlst du dich in Bezug auf das Geschlecht deines Babys sehr unwohl, bist traurig oder bemerkst depressive Symptome, sind (neben deinem Partner oder deiner Partnerin selbstverständlich) deine Hebamme und/oder deine Frauenärztin oder dein Frauenarzt die richtigen Ansprechpartner. Auch Familienzentren oder Schwangerschaftsberatungsstellen wären geeignete Anlaufstellen. Sie können bei Bedarf alles in die Wege leiten, damit dir im Rahmen einer Psychotherapie professionell geholfen werden kann.

Das Ziel einer solchen Therapie wäre zunächst, die Ursachen herauszufinden, warum du einen so starken Geschlechterwunsch hast. Es wird ergründet, warum du beispielsweise ein gewisses Bild davon im Kopf hast, wie deine zukünftige Familie aussehen soll und wie man dieses Bild korrigieren kann. Außerdem läge ein Fokus darauf, die vorgeburtliche Bindung zwischen dir und deinem Baby im Bauch herzustellen und zu stärken.

Unsere Buchtipps zum Thema

  • Kristin Peukert: Ein Kleeblatt voll Jungs: Gender Disappointment – Wenn das Wunschgeschlecht nicht kommt
    Anhand ihrer eigenen Geschichte erklärt die Autorin, welche Gründe es für Gender Disappointment geben kann und gibt Tipps, wie man die eigenen Gefühle besser verstehen und mit ihnen umgehen kann.
  • Philippy Perry: Das Buch, von dem du dir wünschst, deine Eltern hätten es gelesen: (und deine Kinder werden froh sein, wenn du es gelesen hast)
    Wie beeinflusst unsere eigene Erziehung die Einstellung zu unseren Kindern (schon in der Schwangerschaft)? Die erfahrene Psychotherapeutin gibt in ihrem Bestseller Tipps, wie wir aus eingefahrenen Denk- und Verhaltensmustern ausbrechen und eine echte Verbindung zu unseren Kindern aufbauen.
  • Stefanie Stahl: Das Kind in dir muss Heimat finden: Der Schlüssel zur Lösung (fast) aller Probleme 
    Kein Buch, das sich konkret mit Gender Disappointment beschäftigt. Aber gegebenenfalls mit den zugrundeliegenden Ursachen dafür. Stefanie Stahl stellt mit ihrem Buch einen Ansatz vor, wie wir Verletzungen aus der eigenen Kindheit aufarbeiten und damit unser gesamtes Beziehungsleben glücklicher gestalten können.

Fazit 

Bist du enttäuscht, weil dein Baby nicht das Geschlecht hat, das du dir gewünscht hast, dann sei dir erst einmal versichert: Du bist damit nicht allein. Diese Gefühle sind zu einem gewissen Grad normal. Schließlich hattest du einen Wunsch, der nicht in Erfüllung geht. Es ist also nichts Verwerfliches daran, traurig zu sein, sollte das Baby nicht das ersehnte Mädchen oder der ersehnte Junge werden. Wichtig ist, dass du das Kind in deinem Bauch dennoch fühlst und dich auf es freuen kannst.

Du solltest mit jemand Nahestehendem über deine Gefühle sprechen, im besten Fall mit deinem Partner oder deiner Partnerin. 

Belasten dich negative Emotionen und hast du das Gefühl, es stellt sich keine Vorfreude mehr auf das Baby ein, solltest du den wichtigen Schritt gehen und dir professionelle Hilfe suchen. 

Wir wünschen dir und deinem Baby, das am Ende absolut perfekt für dich und über alle Maßen von dir geliebt sein wird, von Herzen alles Gute für eure gemeinsame Zukunft!

bd5f285521ed40e9a978f86936587eb9 - Gender Disappointment: Wenn „Hauptsache gesund!“ nicht ausreicht
Mehr zum Thema

Quellen

✔ Inhaltlich geprüft am 05.11.2024
Dieser Artikel wurde von Emely Hoppe geprüft. Wir nutzen für unsere Recherche nur vertrauenswürdige Quellen und legen diese auch offen. Mehr über unsere redaktionellen Grundsätze, wie wir unsere Inhalte regelmäßig prüfen und aktuell halten, erfährst du hier.

Veröffentlicht von Carolin Severin

Carolin ist zweifache Mama und leidenschaftliche Familien-Redakteurin. Sie beschäftigt sich schon seit über 10 Jahren hauptberuflich mit allem, was (werdende) Eltern interessiert. Bei Babelli versorgt sie euch mit Informationen und News rund ums Thema Schwangerschaft. Dabei ist es ihr besonders wichtig, komplexe medizinische Themen verständlich und sensibel aufzubereiten und dabei möglichst Sorgen und Ängste zu nehmen. Dafür arbeitet sie eng mit unserer Expertin Hebamme Emely Hoppe zusammen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert