Kommt ein Baby deutlich vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt, ist seine Lunge noch unreif, was zu Komplikationen führen kann. Um das Kind besser auf die frühe Geburt vorzubereiten, erhalten viele Schwangere eine Glukokortikoidtherapie, umgangssprachlich auch als “Lungenreifespritze” bezeichnet. Eine bewährte Maßnahme, die jedoch zunehmend kritisch hinterfragt wird.
Die Nachricht einer drohenden Frühgeburt ist für werdende Eltern mit großer Sorge verbunden. Je nachdem, wie viel Zeit vor dem ET das Baby zur Welt kommt, ist sein Organismus noch nicht (vollständig) bereit für ein Leben außerhalb des Mutterleibs.
Eines der größten Risiken für frühgeborene Babys stellen Atemprobleme dar, denn die Lungenreife ist erst mit der vollendeten 34. SSW erreicht. Droht die Geburt vor Erreichen dieses Meilensteins, kann eine Glukokortikoidtherapie (Lungenreifespritze) helfen, das Risiko für schwerwiegende Komplikationen zu senken.
Neuere Studien verunsichern aber. Erhöht die Lungenreifespritze wirklich das Risiko für psychische Probleme beim Kind? Was steckt hinter der Behandlung, wie wirkt sie und was sagen die aktuellen medizinischen Leitlinien dazu?
Was sind Glukokortikoide?
Glukokortikoide sind körpereigene Steroidhormone, die in der Nebennierenrinde produziert werden. In der Medizin werden sie synthetisch hergestellt und kommen wegen ihrer entzündungshemmenden Eigenschaften bei Entzündungen, Autoimmunerkrankungen oder Allergien zum Einsatz.
In der Geburtshilfe haben Glukokortikoide eine weitere besondere Bedeutung: Sie werden gezielt zur Reifung der Lunge von Ungeborenen eingesetzt, wenn eine Frühgeburt droht.
Zwei Präparate haben sich in der Praxis zur Förderung der Lungenreifung bewährt: Betamethason und Dexamethason. Sie werden der Schwangeren per Spritze verabreicht, meist in den Gesäßmuskel oder den Oberschenkel. Dabei wird je nach Wirkstoff eine bestimmte Dosis und ein bestimmter Behandlungszeitraum eingehalten (siehe unten: Leitlinien).
Warum ist die Lungenreifung so wichtig?
Die Lunge des Fetus entwickelt sich über viele Wochen hinweg. Babys, die vor der 35. SSW geboren werden, haben häufig noch nicht genug von einer Substanz namens Surfactant gebildet. Dieses Gemisch aus Lipiden, Proteinen und Kohlenhydraten senkt die Oberflächenspannung in den Lungenbläschen und verhindert so, dass diese beim Ausatmen kollabieren. Ohne genügend Surfactant fällt es dem Neugeborenen schwer, selbstständig zu atmen. Es droht das Atemnotsyndrom (Respiratory Distress Syndrome, kurz: RDS). RDS ist die Hauptursache für das Versterben sehr unreifer Frühgeborener.
Die Gabe von Glukokortikoiden regt die Lungenzellen des ungeborenen Kindes zur vermehrten Produktion von Surfactant an.
Vorteile der Lungenreifespritze
Die Wirksamkeit dieser Behandlung ist gut belegt. Studien zeigen:
- Das Risiko für ein Atemnotsyndrom wird um 50 Prozent gesenkt.
- Kommt es doch zu RDS, ist dieses weniger schwer als ohne Behandlung.
- Auch andere schwerwiegende Komplikationen bei Frühgeborenen wie Hirnblutungen, Darmentzündungen (NEC) oder Sepsis treten seltener auf.
- Die Sterblichkeit von Frühgeborenen lässt sich durch eine einmalige Gabe von Glukokortikoiden deutlich verringern.
Diese Vorteile sind besonders ausgeprägt, wenn die Geburt zwischen 24 Stunden und sieben Tagen nach der Injektion erfolgt. Zwar ist die volle Wirksamkeit der Spritze erst nach 48 Stunden erreicht, aber das Risiko für RDS ist bereits nach 24 Stunden verringert.
Auch bei extremen Frühgeburten (also vor der 24. SSW) kann die Gabe sinnvoll sein, wenn nach der Geburt eine intensivmedizinische Versorgung geplant ist.
Mögliche Risiken und Nebenwirkungen
Wie jede medizinische Behandlung ist aber auch die Glukokortikoidgabe nicht ohne Risiken. Zwar gelten die eingesetzten Medikamente in der empfohlenen Dosierung als gut verträglich, doch es gibt auch Hinweise auf mögliche Nebenwirkungen:
- Wiederholte oder unnötige Gaben können mit einem verringerten Geburtsgewicht und einem erhöhten Risiko für Entwicklungsverzögerungen in Verbindung stehen.
- Die Langzeitwirkungen, vor allem auf die neurokognitive Entwicklung, sind noch nicht abschließend geklärt, insbesondere bei der Behandlung nach der 34. SSW.
- Bei der Mutter können kurzfristig Nebenwirkungen wie erhöhter Blutzucker auftreten, was bei bestehendem Schwangerschaftsdiabetes berücksichtigt werden muss.
Aktuelle Studien warnen vor unnötige Glukokortikoidgabe
Wie bei den Vorteilen spielt das Timing der Behandlung auch hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen eine große Rolle.
Einige große Studien aus den letzten Jahren, unter anderem aus Finnland, Dänemark und Kanada, konnten deutliche Zusammenhänge zwischen der Lungenreifespritze und späteren psychischen Störungen und Verhaltensauffälligkeiten der betroffenen Kinder herstellen. Je später (und damit termingerechter) die Kinder zur Welt kamen, desto ausgeprägter waren diese Zusammenhänge. Sehr früh geborene Kinder zeigten dagegen ein verringertes Risiko für neuropsychologische Probleme.
Es sind dringend weitere Untersuchungen nötig, um die Zusammenhänge besser zu verstehen und die Sicherheit der Behandlung in Zukunft weiter zu erhöhen.
Die Behandlung muss sorgfältig abgewogen werden
Ein großes Problem in der Praxis ist, dass sich der Zeitpunkt der (spontanen) Geburt nie genau vorhersagen lässt. Auch bei deutlichen Anzeichen für eine baldige Geburt kann es erst viele Wochen später wirklich so weit sein.
Um die Vorhersagen genauer zu machen und so bestenfalls unnötige Glokortikoidgaben zu vermeiden, werden zuvor verschiedene Tests durchgeführt, etwa die Messung der Zervixlänge oder ein Fibronektion-Test. Sie lassen Aussagen über die Wahrscheinlichkeit für eine Geburt innerhalb der nächsten sieben Tage zu.
Dennoch bleibt es schwer, den weiteren Verlauf abzuschätzen. So gebären tatsächlich nur 20 bis 40 Prozent der Schwangeren wirklich innerhalb dieses vorhergesagten Zeitraums.
Was sagen die aktuellen Leitlinien?
Zum aktuellen Zeitpunkt übersteigen die erwiesenen Vorteile der Lungenreifespritze (insbesondere die gesteigerten Überlebenschancen gefährdeter Babys!) etwaige Nachteile.
Dennoch sollte ihr Einsatz individuell und sorgfältig abgewogen werden. Die S2k-Leitlinie „Prävention und Therapie der Frühgeburt“ (AWMF, Stand 2022) bietet konkrete Empfehlungen für den Einsatz von Glukokortikoiden bei einer drohenden Frühgeburt:
- Zwischen 24+0 und 33+6 SSW: Eine einmalige Gabe von 2 × 12 mg Betamethason im Abstand von 24 Stunden oder 4 × 6 mg Dexamethason alle 12 Stunden wird empfohlen.
- Zwischen 22+0 und 23+6 SSW: Eine Gabe kann erwogen werden, wenn eine intensivmedizinische Versorgung des Neugeborenen vorgesehen ist.
- Wiederholung: Eine einmalige Wiederholung ist vor der 29. SSW möglich, wenn seit der ersten Gabe mehr als sieben Tage vergangen sind und weiterhin eine Frühgeburt droht.
- Zwischen 34+0 und 36+5 SSW (“späte Frühgeburt”): Eine routinemäßige Gabe wird nicht empfohlen, da zwar kurzfristige Vorteile beobachtet wurden, aber belastbare Langzeitdaten hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen fehlen.
Die Anwendung erfolgt idealerweise stationär und sollte nur nach ärztlicher Beurteilung und Aufklärung stattfinden.
Fazit: Ein sensibler Balanceakt
Die Glukokortikoidtherapie oder Lungenreifespritze ist ein wirksames Mittel, um das unreife Baby besser auf den verfrühten Start ins Leben vorzubereiten. Sie kann Leben retten und langfristige Schäden durch Sauerstoffmangel verhindern. Es gibt aber auch mögliche Nebenwirkungen, gerade für spät-frühgeborene oder termingerecht geborene Kinder.
Die Glukokortikoidtherapie sollte deshalb nur gezielt und nach sorgfältiger medizinischer Nutzen-Risiko-Abwägung erfolgen.
Für euch als werdende Eltern in dieser schwierigen Situation ist es wichtig, offen mit eurem behandelnden Team zu sprechen, Fragen zu stellen und euch über mögliche Vor- und Nachteile aufklären zu lassen.
🎧 Podcast: Wie ist das mit einem Frühchen? Ein Erfahrungsbericht
Die Vorfreude ist riesig – doch dann kommt alles anders. Das Baby kommt viel zu früh auf die Welt. Was bedeutet das für eine Mutter? In dieser Folge des babelli Podcasts erzählt uns Jutta ihre ganz persönliche Geschichte. Ihr Sohn wurde als Frühchen geboren. Sie nimmt uns mit in diese herausfordernde Zeit: Wie sie die Geburt erlebt hat, welche Hürden sie überwinden musste und wie es ihr und ihrer Familie zu Hause ergangen ist.
Quellen
- Deutsches Ärzteblatt
- Glukokortikoide zur Lungenreife beinträchtigen psychische Entwicklung und Verhalten. https://www.aerzteblatt.de/news/glukokortikoide-zur-lungenreife-beintraechtigen-psychische-entwicklung-und-verhalten (abgerufen am 14.05.2025)
- Pränatale Steroide könnten spätere mentale Störungen begünstigen. https://www.aerzteblatt.de/news/praenatale-steroide-koennten-spaetere-mentale-stoerungen-beguenstigen (abgerufen am 14.05.2025)
- H. Schneider, K.T.M. Schneider, P. Husslein (Hrsg.): Die Geburtshilfe. Springer Verlag, E-Book 2016.
- D. Surbek, T. Roos, M. Hodel, R. Pfister, I. Hösli: Glukokortikoidtherapie zur antenatalen Lungenreifung bei drohender Frühgeburt Indikationen und Dosierung. In: GYNÄKOLOGIE 2/2019. https://www.rosenfluh.ch/media/gynaekologie/2019/02/Glukokortikoidtherapie-zur-antenatalen-Lungenreifung-bei-drohender-Fruehgeburt.pdf (abgerufen am 14.05.2025)
- Medical Tribune: Kortison vor der Geburt erfordert richtiges Timing. https://www.medical-tribune.de/medizin-und-forschung/artikel/kortison-vor-der-geburt-erfordert-richtiges-timing (abgerufen am 14.05.2025)
- DGGG, OEGGG, SGGG: Leitlinienprogramm – Prävention und Therapie der Frühgeburt. https://register.awmf.org/assets/guidelines/015-025l_S2k_Praevention-Therapie-Fruehgeburt_2025-03-verlaengert.pdf (abgerufen am 14.05.2025)
- Cochrane: Welchen Nutzen und welche Risiken hat die Gabe von Kortikosteroiden bei Schwangeren mit erhöhtem Frühgeburtsrisiko? https://www.cochrane.org/de/CD004454/PREG_welchen-nutzen-und-welche-risiken-hat-die-gabe-von-kortikosteroiden-bei-schwangeren-mit-erhohtem (abgerufen am 14.05.2025)
- Studien:
- K. Räikkönen et al.: Associations Between Maternal Antenatal Corticosteroid Treatment and Mental and Behavioral Disorders in Children. JAMA. 2020;323(19):1924–1933. doi:10.1001/jama.2020.3937 (abgerufen am 14.05.2025)
- K. Laugesen et al.: Mental Disorders Among Offspring Prenatally Exposed to Systemic Glucocorticoids. JAMA Netw Open. 2025;8(1):e2453245. doi:10.1001/jamanetworkopen.2024.53245 (abgerufen am 14.05.2025)
- K. Ninan et al.: Evaluation of Long-term Outcomes Associated With Preterm Exposure to Antenatal Corticosteroids: A Systematic Review and Meta-analysis. JAMA Pediatr. 2022;176(6):e220483. doi:10.1001/jamapediatrics.2022.0483 (abgerufen am 14.05.2025)
- A.F. Duncan et al.:. Use of Antenatal Corticosteroids for Risk of Preterm Birth—Is Timing Everything? JAMA Pediatr. 2022;176(6):e220480. doi:10.1001/jamapediatrics.2022.0480 (abgerufen am 14.05.2025)













