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NRWs Kita-Pläne: Lösung oder Symptombekämpfung?

Frau im Kindergarten hält sich erschöpft die Hände vors Gesicht.
Welche Auswirkungen hat die geplante Notfall-Maßnahme in NRW für die verantwortliche Fachkraft und das Wohl der 60 Kinder? / Bild © nicoletaionescu, Adobe Stock.

Durch die hohen, temporären Gruppenschließungen in NRWs Kitas hat Familienministerin Josefine Paul eine neue Maßnahme angeregt. Ob es sich um eine Lösung oder um reine Kosmetik handelt? Und wo liegt das eigentliche Problem im System Kita?

Die Idee hinter der Maßnahme

Um dauerhaften Gruppen-Schließungen oder Betreuungszeiteinschränkungen wegen Personalmangel vorzubeugen, möchte NRWs Familienministerin Josefine Paul laut Spiegel die Personalvorgabe in Kitas lockern: In Notfällen (akuter Personalnotstand) und zeitlich befristet (bis zu 6 Wochen) soll künftig eine ausgebildete Fachkraft auf 60 Kinder kommen und die übrige Betreuung mit Ergänzungskräften abgedeckt werden.

  • ausgebildete Fachkräfte: kindheits-, sozialpädagogisches, heilpädagogisches oder erzieherisches Fachpersonal.
  • Ergänzungskräfte: Personal aus dem Bereich Kinderpflege, Sozialassistenz und Heilerziehungspflegehilfe.

Was der Entwurf verspricht

Pauls großes Ziel mit der Maßnahme ist, dass auch in Zeiten hoher Personal-Krankheitsraten die Gruppen möglichst bestehen bleiben.

Bei Studierenden aus dem Bereich schlägt Paul vor, dass diese schon im fortlaufenden Studium als Fachkräfte anerkannt werden und nicht erst nach Abschluss. Auch Menschen mit ausländischen Abschlüssen sollen durch den Entwurf schneller ihrem erlernten Beruf nachgehen und dadurch ihre Deutsch-Kenntnisse im pädagogischen Tun verstärken können.

Paul brachte ebenfalls an, dass künftig auch “profilrelevante Kräfte” (als Beispiel Musiker, Handwerker, Gärtner) für bestimmte Zeiten in Betreuungseinrichtungen als Ergänzungskräfte aushelfen können.

Das entspräche dem Gedanken einer interdisziplinären Betreuung und Bildung, in der jeder Mensch sein Wissen in eine Gemeinschaft einbringt, damit die Kinder unterschiedlichste Lernerfahrungen sammeln und davon letztlich profitieren können. 

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Was ist das eigentliche Problem?

So weit, so gut. Denn natürlich sind die wiederholten Gruppenschließungen in deutschen Kitas ein bekanntes Problem für Eltern, Kinder und Fachkräfte. 

Doch kann man sich einzig an der Symptombehandlung ansetzen? 

Wir sagen: Nein, das ist für eine Veränderung im Sinne des Kindeswohls nicht zielführend!

Oberste Priorität: Das Kindeswohl und die Bildungsqualität

Eine Kita ist eine Bildungs- und Betreuungseinrichtung.

Die Qualität einer solchen Einrichtung ist daher maßgeblich entscheidend für die Art und Weise, wie das Kind sich, seine Umwelt und seine Mitmenschen wahrnimmt und ihnen heute und später begegnet.

Das macht gut ausgebildete Fachkräfte unerlässlich. Denn letztlich sind sie der Dreh- und Angelpunkt, damit ein Rahmen für diese Lernerfahrungen gegeben ist.

Noch wichtiger als die täglichen Bildungs- und Lernerfahrungen ist ohne Zweifel das Kindeswohl. Um sich frei entfalten zu können, muss das Kind sich in der Kita in seinen Bedürfnissen individuell gesehen, gehalten und geborgen fühlen. 

Fatale Verantwortung für die Fachkraft …

Wenn nur noch eine Fachkraft die Verantwortung für 60 Kinder trägt, kann sie nicht nur kaum bis gar nicht bedürfnisorientiert agieren, sie wird im Extremfall auch zur Verantwortung gezogen. 

Ein Schlag ins Gesicht für alle Fachkräfte, welche das brüchige System Kita seit Jahrzehnten hinnehmen und die Verantwortung für Dinge tragen, die offensichtlich im System liegen.

Denn das Bildungs- und Betreuungssystem Kita ist schon lange an seiner Grenze angekommen. Die Ursprünge rühren aus den langjährigen, strukturell unzureichenden Gegebenheiten. 

Das ist vor allem …

Der deutlich zu niedrige Personalschlüssel

Die Regelungen sind hier immer auch vom Bundesland abhängig. Die belastende Lage der Betreuungseinrichtungen ist allerdings ein Problem in ganz Deutschland. 

Im Schnitt kommen im U3/Krippenbereich (0 bis 3 Jahre) auf eine Fachkraft 3 bis 5 Kinder, bei Kindergartenkindern (3 bis 6 Jahre) sind es eine Fachkraft auf 7 bis 11 Kinder. 

Zahlen, bei denen man erst mal schlucken muss. 

Denn Kinder brauchen verlässliche Bindungs- und Bezugspersonen für ihr Aufwachsen, die sie individuell und vor allem mit Zeit, Ruhe und genügend Kapazität begleiten können. 

Von ihnen lernen sie letztlich sozial-emotionale Kompetenzen. Gerade die frühen Beziehungserfahrungen prägen ihr individuelles Bild über diese Welt.

Eine Rechnung, die niemals aufgehen kann

Keine Fachkraft kann auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von 4 Kindern im U3-Alter oder 9 Kindern im Kitaalter gleichzeitig angemessen eingehen. 

Es ist klar, dass diese Rechnung nicht aufgeht. Letztlich leiden darunter die Kinder und ihr Wohl.

Hinzu kommt …

Eine immense Arbeitsbelastung und hohe Erkrankungsraten

Ein Alltag mit starkem Lautstärkepegel, ein pausenloser Austausch mit anderen Menschen (Kindern, Eltern, anderen Fachkräften) sowie die Verantwortung, Fürsorge und Pflege für zahlreiche andere Menschenleben – klingt nach ziemlich viel emotionaler und körperlicher Belastung, oder?

Hinzu kommt, dass die Kita ein Nährboden für Viren und Krankheitserreger aller Art ist. Gerade im Kleinkind- und Kitaalter ist das Immunsystem noch im Aufbau, weshalb Kinder häufiger krank werden. 

Diese Viren bekommen eben auch die Fachkräfte ab. Wenn ein Mensch krank ist, sollte er keine Schuld oder Verantwortung spüren müssen, sondern sich völlig auskurieren dürfen. 

Als pädagogische Fachkraft sieht die Realität allerdings anders aus …

Schuld- und Verantwortungsgefühl der Fachkräfte durch das System Kita 

Nicht selten gehen Fachkräfte – in Hinblick auf den ohnehin schon niedrigen Personalschlüssel – eher arbeiten, als sich vollständig auszukurieren, damit die Gruppe im Zweifel nicht schließen muss und um das Kollegium zu entlasten. 

Denn furchtbarer Weise hängt eine Gruppenschließung oder Betreuungszeitkürzung häufig von der einzelnen Erkrankung einer Fachkraft ab. 

Kannst du dir vorstellen, wie sich eine kranke Fachkraft dann fühlen mag? Wenn sie nicht krank sein darf, damit das System nicht erneut zusammenbricht?

Ein Fakt, den viele Fachkräfte seit Jahren schlichtweg hinnehmen müssen, obwohl das Problem nicht bei ihnen, sondern bei der Struktur des deutschen Kita-Systems liegt. Das zeigt erneut, dass der Personalschlüssel von vornherein viel zu niedrig ist.

Wenn das Bestehen eines Systems von einzelnen Personen abhängt, ist das System kaputt.  

Seit Langem wird ebenfalls deutlich …

Ein unattraktives Berufsprofil und der Wert von Care-Arbeit

Die Tätigkeit einer pädagogischen Fachkraft ist kaum attraktiv für angehende Arbeitnehmer. 

Ob eine niedrige Bezahlung, kaum Entlastung, der viel zu niedrige Personalschlüssel, die hohe Arbeitsbelastung und die große Verantwortung – was ist uns Bildungs- und Care-Arbeit, die das Bestehen dieser Gesellschaft sichert, wert?

Und was würde der oben genannte Entwurf für die Qualitätssicherung der pädagogischen Arbeit in der Kita und vor allem für die Wahrnehmung des Berufsprofils einer pädagogischen Fachkraft zukünftig bedeuten?

Leider ein weiterer Schlag ins Gesicht für (angehende) pädagogische Fachkräfte, die ihre Profession mit Tatkraft, Hingabe und Engagement ausführen. Ihr systemrelevantes Berufsprofil wird mit dem Entwurf kleingeredet.

Doch mit der Bereitschaft zur Ursachenforschung gäbe es vielleicht Hoffnung und Zuversicht.

Eine Idee wäre: Den Personalschlüssel vom Ursprung neu zu denken und drastisch zu erhöhen.

Eine weitere Idee wäre …

Fachkraftstellen attraktiver gestalten – und die Zukunft von Kindern sichern

Statt nur in kurzfristigen Notfalllösungen zu denken, die die ausgebildeten Fachkräfte noch mehr belasten, wäre doch eher die Frage: Wie lässt sich der Beruf einer pädagogischen Fachkraft attraktiver und vor allem fairer gestalten, damit sich mehr Menschen wieder aktiv für ihn entscheiden?

Es ist Zeit, das System zu hinterfragen und am Ursprung neu anzusetzen.

Denn …

Die Kinder von heute gestalten die Welt von morgen

Es geht hier um das Wohl von Menschenleben.

Wenn nur eine pädagogische Fachkraft in Notfallzeiten künftig für 60 Kinder die Verantwortung trägt, wird das Ganze auf dem Rücken des Kindeswohls ausgetragen.

Und was bedeutet es für die Kinder, wenn ihre Bildung und Begleitung nun auch von pädagogisch ungelernten Kräften abhängen? Sowohl individuellen Bedürfnissen als auch dem Schutz der Kinderrechte wird durch den Entwurf leider keinerlei Beachtung geschenkt.

Durch die Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie ist längst klar, dass die ersten 7 Lebensjahre eines Menschen entscheidend sind und seine Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägen. 

Umso wichtiger, dass die aktuellen Brüche des Systems Kita bei Notfallvorschlägen nicht in den Hintergrund rücken.

Für die Kinder, die unsere Zukunft sind. Denn ihre Kindheit und ihr Erleben der Welt sind JETZT.

Fazit

Die geplante Maßnahme von NRWs Familienministerin Paul ist eine kurzfristige Notfall-Idee für alle Beteiligten.

Allerdings wird sie auf dem Rücken der Kinder und der ausgebildeten Fachkräfte ausgetragen. Obendrein könnte sie gleichzeitig die Ursprungsproblematik weiter in den Hintergrund rücken. 

Wichtig ist, dass weiter aktiv hingeschaut wird, wie sich das System Kita neu denken lässt – im Sinne des Kindeswohls und unter Berücksichtigung der entwicklungspsychologischen Erkenntnisse über die ersten Lebensjahre eines Menschen. 

  • Damit Eltern ihre Kinder regelmäßig und mit einem guten Gefühl in die Kita bringen können. 
  • Damit Fachkräfte sich ohne schlechtes Gewissen auskurieren können, weil genügend weiteres Fachpersonal vor Ort ist. Damit sie ganzheitliche Entlastungsoptionen für ihre systemrelevante Tätigkeit erhalten und ihren Bildungsauftrag tatsächlich umsetzen können.
  • Damit Kitas einen deutlich höheren Personalschlüssel bekommen, der sich positiv auf eine individuelle, bewusste Betreuung auf Augenhöhe, das Kindeswohl und die Bildungsqualität der Einrichtungen auswirken kann. 

Und damit letztlich alle Kita-Kinder eine Betreuungs- und Bildungserfahrung machen, die sie für ihr weiteres Leben stärken und prägen kann. 

Quellen

Veröffentlicht von Leonie Illerhues

Leonie war nach ihrem Studium der Heilpädagogik lange im Schulhort-, Kita- und Krippenbereich tätig. Erziehungs- und Entwicklungsthemen im Baby- und Kleinkindalter sind deshalb ihr Steckenpferd. Seit 2022 ergänzt Leonie unser Team mit diesem Schwerpunkt.

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