Manchmal entwickelt das Kind plötzlich einen oder mehrere Tics. Dann sind Sorge und Gedanken darum natürlich groß. Wir klären, was möglicherweise dahintersteckt und was du als Elternteil über Tics wissen solltest.
Was zählt zu Tics?
Zu Tics zählen nach der ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen etwa:
- Motorische Tics: unwillkürliche, schnelle, wiederholte, nicht rhythmische Bewegungen einzelner Muskelgruppen des Kindes. Beispiele: Blinzeln, Schulterzucken, Kopfwerfen, Grimassen.
- Vokale (sprachliche) Tics: plötzliche Geräusche, Ausrufe oder Laute ohne erkennbaren Zweck. Beispiele: Bellen, Räuspern, Zischen, Schnüffeln.
- Komplexe Tics: wiederholtes Sich-selbst-Hauen, Springen oder Hüpfen sowie die Kombination und Wiederholung bestimmter Wörter oder Laute.
Ab wann ist ein Tic ein Tic?
Man spricht von einem Tic, wenn eines der oben genannten Symptome viele Male am Tag über einen Zeitraum von mindestens 4 Wochen auftritt – ohne dass eine organische Ursache, ein diagnostiziertes Tourette-Syndrom oder die Nebenwirkung eines Medikaments dahintersteckt.
Tics können einzeln, aber auch in Kombination auftreten.
Gerade im Kindesalter sind Tics häufig vorübergehend. Sie gelten dann als „vorübergehende Ticstörung“, wenn sie nicht länger als 12 Monate anhalten. Größtenteils handelt es sich um Blinzeln, Grimassen oder wiederholtes Kopfschütteln.
Hält ein Tic länger als 12 Monate an, spricht man von einer chronischen Ticstörung. Auch das Tourette-Syndrom zählt zur chronischen Ticstörung.
Die betroffenen Kinder erleben die Tics als nicht kontrollierbar. Teilweise lassen sie sich für bestimmte Zeiträume unterdrücken, manchmal auch gar nicht. Bei Stress oder Belastungen können sie sich verschlimmern, beim Schlafen sind sie kein Thema.
Doch wie und warum entwickelt sich eigentlich ein Tic?
Mögliche Ursachen
Wie bei vielen plötzlich auftretenden Symptomen können auch bei der Tic-Störung verschiedene Ursachen (in Kombination) dahinterstecken.
Die häufigsten möglichen Ursachen sind …
- Dauerhafter Stress: Ein Tic kann für das Kind ein Ventil für eine längere, innere Anspannung sein. Ist etwa die ganze Familie im Dauerstress, kann ein Tic ein Hinweis des Körpers darauf sein „Hier stimmt etwas nicht im System.“ Da Stress individuell wahrgenommen wird, kann letztlich alles ein Stressor sein.
- Reizüberflutung: Wenn das Kind vielen Reizen ausgesetzt ist oder Schwierigkeiten hat, Reize von Außen zu verarbeiten oder zu filtern, kann ein Tic eine Flucht-Möglichkeit des Körpers sein, diese Reizüberflutung zu kompensieren.
- Druck und Leistung: Wenn das Kind zu Hause oder in der Schule einem übermäßigen Leistungsdruck ausgesetzt ist, kann der Tic ebenfalls wie ein „Herauslassen der Anspannung“ vom Körper wirken.
- Ängste aller Art: Hat das Kind belastende Ängste, können diese über einen oder mehrere Tics körperlich zum Vorschein kommen.
- Schlafmangel: Auch chronischer Schlafmangel kann eine Tic-Entwicklung verstärken.
- Mobbing: Ausgrenzungserfahrungen im Alltag begünstigen die Entwicklung von Tics zusätzlich.
- Akute Lebensveränderungen: Auch ein Umzug, die Trennung der Eltern oder der Kita-Wechsel können Tics auslösen.
- Traumareaktion: Hat das Kind ein traumatisches Erlebnis hinter sich, kann der Tic eine Reaktion des Körpers darauf sein.
- Genetische Veranlagung: Tics können in manchen Familien gehäuft auftreten. Wenn Eltern oder Geschwister bereits Tics hatten oder haben, ist das Risiko der Tic-Entwicklung erhöht.
- Neurotransmitter-System: Studien weisen außerdem darauf hin, dass ein Ungleichgewicht des Neurotransmitters Dopamin Tic-Störungen begünstigen kann.
Was Eltern bei Tics tun können – 4 Schritte
1. Den Gang zur Kinderarztpraxis nicht aufschieben
Wenn wie oben beschrieben ein Tic des Kindes länger als 4 Wochen anhält und mehrmals am Tag oder in der Woche auftritt, empfehlen wir den Gang zur Kinderarztpraxis.
Ein Tic sollte immer ärztlich abgeklärt werden, um die möglichen Ursachen zu finden und so dem Kind Linderung zu verschaffen.
Denn die betroffenen Kinder haben meist einen starken (bewusst oder unbewusst) inneren Leidensdruck. Obendrein können durch die Tics möglicherweise Konzentrationsstörungen, zusätzlicher Stress oder Mobbing in Kita oder Schule hinzukommen.
In der Kinderarztpraxis werdet ihr womöglich auch an weitere professionelle Fachstellen überwiesen, wie die Kinder- und Jugendpsychotherapie.
Wichtig ist immer, dass alle Möglichkeiten ausgeschöpft werden, die dein Kind jetzt unterstützen und entlasten können.
2. Auslöser wahrnehmen und verringern
Die möglichen Ursachen oben zeigen, dass es eventuell Stressoren im Leben des Kindes gibt, die möglicherweise zur Tic-Entwicklung beigetragen haben.
Versuche, diese Stressoren zunächst zu erkennen. Frage dich dafür etwa:
- Seit wann hat das Kind den Tic? Gab es in den letzten Monaten oder dem Jahr zuvor ein mögliches Auslöse-Erlebnis, wie einen Unfall, einen Umzug, eine Trennung oder gar ein Trauma?
- Welche Ängste, Sorgen oder Belastungen hat dein Kind möglicherweise schon lange vor der Tic-Entwicklung?
- In welchen Situationen ist der Tic stärker, in welchen schwächer ausgeprägt?
Wenn du bestimmte Stressoren gefunden hast, versuche sie Schritt für Schritt zu verringern und bleibe hierbei eng im Austausch mit der Kinderarztpraxis. Beobachte das Ganze weiterhin aufmerksam und schaue, was dein Kind jetzt wirklich braucht.
3. Das Kind liebevoll begleiten
Dein Kind kann seinen Tic, wenn überhaupt, nur zeitweise und mit größter Mühe unterdrücken. In den meisten Fällen und gerade im Kleinkindalter ist das aber kaum möglich.
Der Tic ist für dein Kind damit wahnsinnig anstrengend, selbst wenn es das möglicherweise noch nicht äußert.
Deswegen ist es ganz wichtig, dass du ihm jetzt keinen zusätzlichen Druck machst oder den Tic abwertest. Sätze wie „Reiß dich bitte zusammen.“ verstärken den Leidensdruck nur noch mehr. Nicht selten zeigt sich der Tic dann noch stärker.
Nach dem Gang zur Kinderarztpraxis und der Verringerung der Stressoren sollte dein Fokus deshalb einzig darauf liegen, dein Kind liebevoll zu begleiten.
Schaffe besondere Momente der Leichtigkeit, des Spiels und des Spaßes, damit dein Kind einfach sein darf.
Der Tic nimmt für viele Betroffene einen großen Teil des Alltags ein. Umso wichtiger für dich als Elternteil, den Fokus nun auf das zu legen, was wirklich zählt.
Es kann helfen, die Tics gar nicht mehr groß zu benennen oder zu kommentieren, um den Fokus eben bewusst auf etwas anderes zu legen.
Dein Kind weiß natürlich, dass sie trotzdem da sind. Es wird ihm aber möglicherweise Linderung verschaffen, wenn sie nicht mehr hervorgehoben oder thematisiert werden. Sprich dich hier aber am besten auch mit der Kinderarztpraxis ab.
4. Dich selbst begleiten lassen
Je nach Ausprägung und Art des Tics, schwappt die Belastung deines Kindes möglicherweise auch auf die anderen Familienmitglieder über. Sicher machst du dir Sorgen und Gedanken um die psychische Gesundheit deines Kindes.
Scheue deshalb nicht, dir professionelle Unterstützung zu holen. Du darfst dich im Leben immer entlasten, beraten und begleiten lassen:
- Frühe Hilfen oder Familienhebammen
- Haushaltshilfen
- kostenlose Familienberatung
- andere Hilfsangebote
Fazit
Hat dein Kind plötzlich einen Tic entwickelt, belastet das möglicherweise seinen Alltag und sein Leben.
Wichtig ist, dass du als Elternteil die Symptome wachsam beobachtest und den Gang zur Kinderarztpraxis nicht herauszögerst.
Überdenke auch mögliche Stressoren oder Auslöse-Situationen in den Monaten vor der Tic-Entwicklung und sorge für eine Verringerung. Hierbei kannst du dich von professionellen Fachstellen beraten und begleiten lassen.
In der Regel sind Tics im Kindesalter nur vorübergehend. Dennoch gilt es, aufmerksam und liebevoll hinzuschauen und das Kind bestmöglich zu begleiten.
Quellen
- Bürgin, Dieter (1993). Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.
- Caby, Filip und Andrea (2011). Die kleine psychotherapeutische Schatzkiste. Tipps und Tricks für kleine und große Probleme vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter. (2. Auflage). Dortmund: Borgmann Media.
- Dilling, Horst, Freyberger, Harald J. (2016): ICD-10. Taschenführer zur ICD-10-Klassifikation psychischer Störungen. (8. Auflage). Hogrefe Verlagsgruppe.
- Greving, Prof. Dr. Heinrich, Ondracek, Prof. Dr. Petr (2010): Handbuch Heilpädagogik. (2. Auflage) Troisdorf: Bildungsverlag EINS GmbH.
- Perls, Frederick S., Hefferline, Ralph F., Goodman, Paul (2015). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. (9. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
- Siegel, Elaine V. (1997): Tanztherapie. Seelische und körperliche Entwicklung im Spiegel der Bewegung. Ein psychoanalytisches Konzept. (4. Auflage) Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.