„Mir ist langweilig!“ – warum genau das förderlich für die Entwicklung des Kindes sein kann, erfährst du hier.
Die Taktung des Alltags
In der Regel wird unser Alltag durch die vorgegebenen Zeiten von Kita, Schule und Arbeit bestimmt. Den restlichen Tagesablauf planen wir drumherum.
Wenn ihr als Familie insgesamt viele Verpflichtungen oder Freizeitaktivitäten habt, ist manchmal kaum Zeit für Pausen, Leerlauf oder das süße Nichtstun.
Dabei ist genau das für uns Menschen so wichtig. Denn …
Leerlauf schafft neue Räume
Kennst du das? Nach ein paar Tagen im Urlaub schöpfst du plötzlich eine ungeahnte Kraft für Dinge, die du bei deiner Heimkehr unbedingt angehen möchtest.
Oder das schöne Gefühl an einem freien Sonntagmorgen: Müssen wir mal nicht auf die Uhr achten, ist unser Kopf automatisch befreiter. Nicht selten kommt an solchen Tagen auch mal unterdrückter Frust oder Wut hoch, weil sie im vollen Alltag wenig Platz finden.
Regelmäßige, bewusste Pausen schaffen Leerlauf. Dieser wiederum eröffnet neue Räume und Möglichkeiten.
Freie Räume im Alltag des Kindes
Im Alltag mit Baby oder Kleinkind ist – je nach Lebensrealität – häufig mehr Zeit für freie Räume und Spontaneität. Und in der Kita wird abhängig vom Konzept nicht ohne Grund viel Wert auf die Freispielzeit gelegt, damit jedes Kind die Wahl hat, was es spielen möchte.
Denn ohne Reize, Angebote oder Ideen von Außen ergibt sich automatisch ein freier Raum. Wird er länger ausgehalten, stellt sich manchmal Langeweile ein.
In diesen Momenten ist das Kind früher oder später automatisch darauf angewiesen, seiner inneren Stimme zu lauschen.
Und das ist gut so, denn …
Die Vorteile von Langeweile für die Kindesentwicklung
Langeweile fördert die Kindesentwicklung!
Aus entwicklungspsychologischer Sicht stärkt Langeweile besonders …
- die Kreativität (!): Gibt es keine Spielvorgaben oder äußere Reize, ist viel mehr Platz für die individuelle Vorstellungskraft deines Kindes. Es kann dann selbst und von innen heraus kreativ werden und agieren. Obendrein kann es selbstbestimmt neue Welten gestalten.
- den Selbstwert: Durch Langeweile hat dein Kind viel mehr Raum für sein inneres Erleben. Es kann selbstbewusst überlegen, was es wann, wie und wo tun oder erschaffen möchte. Es lernt, den eigenen Empfindungen, Bedürfnissen, Wünschen und Ideen zu vertrauen und ihnen nachzugehen. Das stärkt sein Selbstbewusstsein, sein Selbstvertrauen und seinen Selbstwert in hohem Maße.
- den Umgang mit eigenen Gefühlen: Gibt es Platz für Langeweile, bekommen auch die eigenen Gefühle mehr Raum. Denn Langweile muss man im ersten Schritt zunächst aushalten (lernen). Dein Kind wird durch Langeweile quasi dazu gedrängt, sich mit seinen eigenen Gefühlen auseinanderzusetzen, sie herauszulassen und sie dann wieder ziehen zu lassen.
- das Konfliktverhalten: Haben mehrere Kinder gemeinsam Langeweile, entsteht zügig die Frage: „Was machen wir denn jetzt?”. Dann müssen Bedürfnisse, Wünsche und Gefühle automatisch miteinander abgestimmt werden. Wenn dein Kind durch Langeweile lernt, die eigenen Gefühle und die anderer auszuhalten, lernt es, Kompromisse zu finden.
- die Konzentration: Ohne Ablenkungen, Reize und Störungen wird die Konzentrationsfähigkeit trainiert. Denn wenn dein Kind nicht abgelenkt wird und einfach nur die Langeweile spürt, ist es automatisch mehr im Hier und Jetzt. Es kann sich viel besser und länger auf das konzentrieren, was gerade da ist – die Langeweile.
- die Fähigkeit, einfach nur dazusitzen: In einer Welt voller Anforderungen, Erwartungen und auch Entertainment, ist es eine großartige Fähigkeit, auch mal Stille aushalten zu können. Je öfter dein Kind seine Langeweile aushalten lernt, desto eher kann es auch innere Ruhe finden, Langsamkeit zulassen und dadurch Platz für Neues schaffen.
Für Kinder mit ADHS ist das “Langeweile aushalten” im Übrigen eher unschön und fühlt sich möglicherweise sogar belastend an. Der Dopamin-Mangel im Gehirn lässt das betroffene Kind aktiv nach neuen Impulsen und Reizen im Außen suchen.
Es ist dann womöglich überfordert von dem Leerlauf. Eltern sollten das hier unbedingt mitbedenken, um das Kind nicht unwissend in belastende Muster zu drängen.
Neben all den Vorteilen von Langeweile für die Kindesentwicklung wird dir eines vermutlich aufgefallen sein …
Langeweile darf gelernt sein
Ja, Langeweile auszuhalten, gelingt nicht einfach so. Im Gegenteil: Sie muss gelernt werden.
Obendrein ist sie auch immer von der individuellen Persönlichkeit des Kindes abhängig. Manche Kinder gehen bei Langeweile sofort in Rollenspielen und kreativen Ideen auf, andere wissen zunächst nichts mit sich anzufangen und reagieren ihren Eltern gegenüber ungehalten.
Als Elternteil kannst du den Prozess von außen fördern, etwa durch …
Freiräume fürs Nichtstun schaffen
Dein Kind braucht für seine Entwicklung keine unzähligen Hobbys oder zig Verabredungen. Eine Aktivität pro Woche bei einem Kita-Kind und zwei Aktivitäten pro Woche bei einem Schulkind sind mehr als ausreichend. Denn meist bleibt daneben ohnehin nur noch wenig Zeit für Freiräume.
Deswegen darfst du diese Freiräume fürs Nichtstun bewusst für dein Kind schaffen.
Beispiele:
- Wie wäre es etwa in der Zeit nach der Kita/Schule und vor dem Abendessen? Was, wenn ihr da einfach mal auf eine freie Wiese geht oder in euer Wohnzimmer und einfach mal nichts tut?
- Wie könnte die kurze Zeit nach dem Abendessen aussehen, bevor es ins Bett geht? Wie wäre es, wenn du dich einfach mal aufs Sofa setzt, ohne Ablenkung und dein Kind einlädst, es dir gleichzutun?
- Was, wenn ihr samstagmorgens einfach mal mit einem Waldspaziergang in den Tag startet? Oder bei euch im Garten? Schaut mal, was ihr in der Natur alles so entdecken könnt und was sich daraus ergibt.
- Anstatt an einem regnerischen Sonntag etwas zu planen, könntet ihr euch einfach mal an den Küchentisch setzen und schauen, welche Ideen ihr habt, die man ohne viel Material drinnen umsetzen kann.
Reizarme Umgebung & ausgewähltes Spielzeug
Wir leben in einer Welt voller Reize, in der die Geschäftigkeit des Lebens auch schon auf unsere Jüngsten täglich einprasselt.
Deswegen empfehlen wir, zu Hause und/oder im Kinderzimmer eine eher reizarme Umgebung zu schaffen.
Ein schlichtes Kinderzimmer, mit den Lieblingsfarben und den 4 bis 5 absoluten Lieblingsspielzeugen des Kindes sowie ein paar Büchern, genügt häufig völlig. Wähle diese Spiele, Farben und Bücher gemeinsam mit deinem Kind aus und lass es hier selbst entscheiden.
Dasselbe gilt für die Spielekiste im Wohnzimmer, falls ihr eine habt.
Wenn dein Kind sich über sein Spielzeug beklagt, kannst du entweder …
- Das Spielzeug regelmäßig gemeinsam mit ihm austauschen. Ihr könntet das „alte“ Spielzeug so lange woanders in der Wohnung lagern. Oder …
- Ihm vorschlagen, sich selbst ein neues Spiel mit seinem Spielzeug zu überlegen. Zwinge es nicht, sondern ermutige es, eigene Ideen und Geschichten im Kopf in sein Spiel einzubauen und die “langweilig” gewordenen Spielzeuge dadurch umzufunktionieren. Akzeptiere auch, wenn dein Kind das einfach nicht möchte.
Sich selbst langweilen
Wenn du unsere übrigen Artikel kennst, wirst du wissen: Dein Kind lernt am meisten durch Nachahmung. Die Art und Weise, wie du mit Freiräumen, Stille und ablenkungsfreien Zeiten umgehst, schaut es sich früher oder später von dir ab.
Frag dich dafür gern einmal: Wann hast du dich das letzte Mal so richtig gelangweilt?
Wie wäre es also, wenn du beim nächsten Abend, an dem du „einfach mal nichts tun” möchtest, auch wirklich mal nichts tust? Einfach auf dem Sofa sitzen und liegen, die Stille zulassen – und das Ganze ohne Handy, TV oder andere Ablenkung?
Probiere es gern mal aus und schaue, was sich in dir regt und ganz besonders, wie dein Kind im Nachhinein darauf reagiert.
Unser Tipp für fortgeschrittene Langeweile-Aushalter …
Langeweile für Profis: Spielzeugfreie Zeiten
Wie wäre es, wenn du mit deinem Kind mal ein Experiment wagst und ihr an einer Woche im Monat das Kinderzimmer-Spielzeug mal auf den Dachboden oder in den Keller verfrachtet?
Ihr könntet dann schauen, welche Spielideen ihm und euch, so ganz ohne Spielzeug, intuitiv kommen.
Alternativ könntet ihr in dieser Zeit auch Haushaltsgegenstände (Tupperdosen, Holzlöffel usw.) oder Naturmaterialien als Spielzeug nutzen.
Am besten ist dein Kind für dieses Experiment schon im Vorschulalter, damit es das emotional verstehen kann und nicht denkt, du nimmst ihm einfach so sein Spielzeug weg.
Langeweile & Langsamkeit zulassen = mehr LEBEN
Ähnlich wie bei spielzeugfreien Zeiten für dein Kind kannst auch du das Langeweile-Aushalten schulen. Hast du schon mal überlegt, einen bildschirmfreien Tag pro Woche einzulegen?
Wenn wir als Erwachsene lernen, Langeweile zuzulassen, ergeben sich automatisch neue Dinge, es erschließen sich uns neue Wege und wir erlauben uns, mal wieder “langsam” im Leben voranzugehen. Nicht umsonst gibt es den Spruch: „In der Ruhe liegt die Kraft.”
In den Momenten des Nichtstuns gelingt es uns viel eher, auf unser Innerstes zu hören. Das macht uns automatisch auch viel bewusster mit unseren Mitmenschen und unserer Umwelt.
Fazit
Langeweile ist nicht nur gut für die Kindesentwicklung – sie ist essenziell!
Gibt es in eurem Alltag genügend Freiraum, kann sich immer mal wieder Langeweile einstellen. Diese wiederum kann eine große Kreativität in deinem Kind entfachen. Obendrein schult sie die sozial-emotionale Kompetenz, die Konzentration, die Konfliktlösefähigkeit, die Gefühlswahrnehmung sowie das Selbstbewusstsein deines Kindes.
Vermeide, dein Kind mit zu vielen Hobbys, Spielzeugen oder Angeboten zu überreizen. Probiere gern unsere Ideen aus und schaue, was passiert.
Wie immer gilt bei all unseren Empfehlungen: Sie müssen zu euch als Familie passen.
Wir wünschen euch ein tolles, gemeinsames Langweilen und sind gespannt, was diese Langeweile in euch entfachen wird!
„… und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hinzuschauen.“
Astrid Lindgren
Quellen
- Davies, Uzodike, van Loon, Wirth (2022). Das Montessori Baby. Geborgen und mit offenen Sinnen ins Leben starten. Weinheim: Verlagsgruppe Beltz.
- Largo, Remo H. (2016). Babyjahre. Entwicklung und Erziehung in den ersten vier Jahren (18. Auflage). München/Berlin: Piper Verlag GmbH.
- Perls, Frederick S., Hefferline, Ralph F., Goodman, Paul (2015). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. (9. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.