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„Hasst Deutschland Kinder?“ – Liebeserklärung an unsere Jüngsten

Liebeserklärung an alle Kinder
Jedes Kind ist ein Geschenk. / Bild © Catherine Falls Commercial, Getty Images

Wie es ist und wie es sein könnte. Ein Meinungsartikel. 

Die Frage, ob Deutschland Kinder hasst, mag auf den ersten Blick provokativ erscheinen. Doch in unserer Gesellschaft, die oft von übersehenen Bedürfnissen und ungelösten Problemen geprägt ist, müssen wir uns diese(r) Frage stellen. Es ist an der Zeit, unseren Kindern endlich die Aufmerksamkeit, Anerkennung und Liebe zu geben, die sie verdienen. 

Das Problem

„Blagen, Bälger, Brut, Gören“, wer kennt sie nicht, die umgangssprachlichen Begriffe für Kinder. Was manche als scherzhaft verkaufen wollen, zeigt ein Grundproblem in unserer Gesellschaft: Kinder scheinen bei uns unerwünscht und bestenfalls geduldet zu sein. Sie stören. Alles Quatsch? Na ja, Sprache ist wichtig. Wenn Kinder „plärren“ statt weinen, wenn sie „Krach machen“ statt lebhaft zu spielen, wenn es immer mehr Restaurants, Hotels und Wellnessbereiche gibt, die Kinder explizit ausschließen, weil sie nicht still genug sind, dann stimmt etwas nicht mit der Grundeinstellung. Andere Länder sind entspannter als wir und lassen Kinder einfach Kinder sein. Meine Kollegin Nina hatte es in ihrem Artikel zum Weltkindertag schon 2023 wunderbar auf den Punkt gebracht. Leider hat sich bisher nicht viel geändert.

Zeit für einen neuen Anlauf.

Welche Priorität Kinder in Deutschland seit Jahrhunderten haben, merkt man nicht nur an der Sprache. Sie müssen noch immer strammstehen und stillsitzen, dürfen nicht reden, wenn Erwachsene sprechen, sollen möglichst früh im eigenen Zimmer schlafen, so viel wie möglich selbständig spielen, ganz schnell wie Erwachsene essen lernen und möglichst keine Widerworte geben. Kinder waren in der Corona-Zeit als „Pandemietreiber“ die ersten, die zu Hause blieben und die letzten, die wieder raus durften – mit den Folgen werden wir noch lange zu tun haben. Erzieher- und Lehrkräftemangel bessern sich nicht. Kitas sind überlastet, Schulen und Schulsystem marode. Das System, das die wichtigste Gruppe unserer Gesellschaft halten und begleiten soll, ist am Limit und längst gegen die Wand gefahren. Eine Situation, die nicht erst seit gestern so ist. Kinderarztpraxen sind überfüllt und Kinderkliniken schließen trotz voller Notaufnahmen. Eltern zerreißen sich, weil sie keiner ihrer Rollen gerecht werden können.

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Unsere Kinder – unsere Zukunft

Wir alle waren mal Kinder und sind es tief drin noch immer. Die jüngere Version von uns, sie wohnt in unserem Herzen und meldet sich zu Wort, wenn sie nicht genügend respektiert oder beachtet wird. Letztlich sind wir er-wachsen geworden, was nicht viel mehr bedeutet, als dass wir uns aus bestimmten Alters- und Entwicklungsstufen herausentwickelt haben. Wir sind damit weiterentwickelte Versionen unserer inneren Kinder. 

Die Kinder, die jetzt in diesem Moment Kinder sind, durchleben ähnliche Wachstums- und Entwicklungsprozesse, und zwar täglich. Deswegen ist es unerlässlich, Kinder, die wichtigste Gruppe unserer Gesellschaft, in Liebe, Achtsamkeit, Achtung und Respekt auf ihrem Weg zu begleiten.

Sie sind es, die sowohl heute als auch später diese Gesellschaft prägen und tragen werden. Ihre Kindheit ist der maßgebliche Schlüssel für die Art und Weise, mit der sie durch die Welt gehen und wie sie diese Welt sehen. Obendrein ist ihre Kindheit mitverantwortlich für unser aller “Morgen”, unsere gesellschaftliche Zukunft. Als Erwachsene und Eltern liegt die Verantwortung dieser Begleitung deshalb in unseren Händen.

Wie wir heute mit unseren Kindern umgehen und reden, so werden sie es letztlich weitergeben, wenn wir es nicht hinterfragen und ändern. Als Einzelperson und besonders als Gesellschaft. 

Kinder sind die wahren Architekten unserer Zukunft: In einer Welt, die oft von Hektik, Lärm und Uneinigkeit geprägt ist, bringen Kinder Individualität, Farbe und Freude in den grauen Alltag. Die jüngsten unserer Gesellschaft zeigen uns auf, was wirklich zählt im Leben. Sie weisen uns auf all die Schönheiten und Kleinigkeiten hin, die wir Erwachsene nicht mehr sehen. Ihr Lachen öffnet die bittersten Herzen und erinnert uns wieder daran, dass das Leben trotz aller Herausforderungen voller Möglichkeiten ist. Und dass die Welt doch gar nicht so verloren ist, wie man manchmal meinen könnte.

Da geht noch was

Ohne Frage, politisch und auch gesellschaftlich tut sich etwas. Und trotzdem nicht genug. Wir sind ein Land, das allein aufgrund seiner Bevölkerungsdichte viel Geld für Familien ausgibt. Ich denke da an Elterngeld, Mutterschaftsgeld, Kinderzuschlag, an Maßnahmen zur Teilhabe, den Unterhaltsvorschuss, den gesetzlich verankerten Anspruch auf einen Kitaplatz, und und und. 

Aber etwas fehlt. 

„Was wollen Eltern denn noch?“ 

Wir wollen nicht nur Geld, sondern Verständnis und echte Anerkennung, die von Herzen kommt. Wir brauchen nicht nur die finanzielle Möglichkeit, für unsere Kinder da sein zu können (das natürlich auch), sondern möchten auch Verständnis dafür spüren, dass wir pünktlich zu Hause sein WOLLEN, eben weil unsere Kinder uns und unsere Liebe wirklich BRAUCHEN. Wir wollen spüren, dass unsere Kinder erwünscht sind, dass sie WERTGESCHÄTZT werden. Wir brauchen keine strengen Blicke und klugen Ratschläge, sondern freuen uns, wenn Kinder im Supermarkt angelächelt werden. Einfach, weil sie da sind, ohne besonderen Grund.

Kinder sind das Leben und SIE SIND DIE ZUKUNFT. Die Gesellschaft braucht sie und sie könnten ihr so viel zurückgeben. Unsere Kinder werden noch da sein, wenn ihre Großeltern und Eltern es nicht mehr sind. Und müssen das ausbaden, was wir alle zusammen verzapft haben.

Was für eine Gesellschaft möchten wir sein?

„Aus uns ist doch auch etwas geworden, obwohl oder gerade weil man unseren Bedürfnissen wenig Beachtung schenkte?“ Nun ja. Wir sind die Generation, die alles psychisch aufarbeiten muss, denn wir waren es, die nachweislich schädliche Erziehungsmethoden zu spüren bekommen haben. Die Zeiten haben sich geändert und solche Vergleiche hinken immer. 

Wir sind die Generation, die oft viel zu spät spürt, was sie wirklich braucht und deshalb bis zur Erschöpfung ackert, die sich auf Social Media zerfleischt und nicht mehr mit ihren Nachbarn redet. Wir sind eine Gesellschaft, die tief gespalten ist und sich ein anderes System herbeiwünscht, aber keine Vision von harmonischem Miteinander hat. Eine Gesellschaft, deren Depressions- und Burnout-Zahlen in die Höhe schnellen. Menschen im Hamsterrad, die nicht mehr daran glauben, dass es überhaupt besser werden kann. 

Wie schön wäre es doch, wenn wir unseren Kindern diese Hoffnung wieder geben könnten, wenn wir ihnen ein buntes Bild davon malen könnten, worauf wir alle zusammen hinarbeiten? Statt zähneknirschend zuzugeben, dass wir sie dummerweise brauchen, weil ja irgendjemand das Rentensystem am Laufen halten und der Boomer-Generation demnächst den Allerwertesten abwischen muss, damit wir nicht auf Roboter angewiesen sind. 

Wäre es nicht viel besser, wenn die heutigen Kinder GERN etwas dazu beitragen WOLLTEN? Wenn sie aus tiefstem Herzen liebten, anderen zu helfen, und verinnerlichen könnten, dass es in einer Gesellschaft wichtig ist, füreinander da zu sein und aufeinander achtzugeben. Wenn sie Zukunftsforschung wirklich spannend fänden, oder Möbelbau oder Anbau von gesunden Lebensmitteln oder was auch immer, und damit einen Platz finden würden, der für sie sinnstiftend ist … 

Dazu müssen sie zuversichtlich sein, dass sie es wirklich schaffen können, dass an sie geglaubt wird und dass sie geachtet werden. 

Denn letztlich kann ich als Mensch viel mehr Glauben an mich selbst und Respekt vor mir und der Welt entwickeln, wenn mir genau das vorgelebt wird: „Ich bin wertvoll, die anderen sind wertvoll, dieser Planet ist wertvoll. Und genau deswegen dürfen wir uns um alle drei Aspekte sorgsam kümmern, damit wir hier noch lange leben können“. Und das geht gerade verloren. Nie hatten Kinder so viele Zukunftssorgen wie jetzt.

Nie waren so viele Kinder depressiv wie jetzt. Ob Mobbing oder viel zu frühe Kompensation von Problemen über Drogen oder Medien … unseren Kindern geht es nicht gut. Aber es passiert nicht genug, wir stecken fest. Als Gesellschaft müssen wir hinschauen und handeln, damit sich das ändert.

Wie es gehen könnte

Kinder laufen nicht nur mit. Wir dürfen sie nicht in unflexiblen Strukturen wegsortieren, damit alles so bleibt, wie es ist. Wir dürfen sie nicht für ein System passend machen, das ausgedient hat. Sie sollen das System mitgestalten können. Ich meine damit nicht, dass das Wohl unserer Gesellschaft ganz allein auf ihren Schultern liegen sollte. Es geht um ein gemeinschaftliches Anerkennen, Begleiten, Füreinander-da-sein und Gestalten. Ihr Beitrag sollte genauso wertgeschätzt werden, wie der Beitrag früherer Generationen.

Um eine solche Gesellschaft zu erschaffen, müssen wir damit beginnen, uns selbst und unsere Kinder gleichermaßen ernstzunehmen. 

Wir dürfen damit beginnen, einander wieder zuzuhören und unseren Kindern dasselbe Gehör zu schenken – denn sie sind die Stimmen der Zukunft. 

Wir dürfen die inneren, starren Überzeugungen ablegen, dass wir nur dann jemand sind, wenn wir andere kleinmachen, wie etwa unsere Kinder. Dafür müssen wir unsere Glaubenssätze hinterfragen und Stück für Stück ablegen. 

Wenn wir zulassen, dass die Jüngsten unser Leben aktiv mitgestalten, erkennen und fördern, dass sie uns als Persönlichkeiten und unsere Gesellschaft mitformen, ist schon viel gewonnen. 

Was ich konkret vorschlage

Ich sage: Macht Kinder zur Priorität – im Privaten, in der Gesellschaft und in der Politik! Ganz bewusst. Und so könnte das aussehen:

Jeder kann im Privaten seinen Teil dazu beitragen, dass sich Kinder gesehen und angenommen fühlen. Wir müssen sie unterstützen, ermutigen und ihnen aufmerksam zuhören. Dann schaffen wir ein Umfeld, in dem sie sich sicher und geliebt fühlen. Lächeln zu verschenken, respektvoll zu sein und sich für ihre Angelegenheiten zu interessieren, kann einen großen Unterschied machen. Ob zu Hause, beim Einkaufen, ganz egal.

Im sozialen Umfeld ist es wichtig, sich um Kinder zu kümmern, die Unterstützung brauchen. Manchmal reicht es schon, nachzufragen, ob Hilfe nötig und erwünscht ist. Als „Mietopa“, als „Lesetante“, als Kuchenbäcker bei Kinderfesten, als Begleitperson bei Ausflügen, als freundliche Nachbarin – was auch immer: Jeder kann einen Beitrag leisten, um Kindern zur Seite zu stehen und ihnen positive Erfahrungen zu ermöglichen. 

In Bezug auf Bildung sind sich bestimmt die meisten Eltern einig: Eine grundlegende Reform des Schulsystems ist dringend erforderlich. Viele Schulen haben ihre Arbeitsmethoden seit Mitte des letzten Jahrhunderts nicht verändert. Nicht weil sie so erfolgreich sind –, sind sie nicht –, es gibt schlichtweg keine Kapazitäten und manchmal keine Motivation dafür. Reflektieren und Veränderungen sind unbequem, das zeigt sich hier. Diese Unflexibilität führt dazu, dass viele Eltern alternative Bildungswege für ihre Kinder suchen. 

Es ist an der Zeit, das Lernen praxisnah zu gestalten. Anstatt Schwächen zu bestrafen, sollten wir die Kinder als Ganzes betrachten, ihre Ressourcen und Stärken sichtbar werden lassen und sie auf ihrem Weg begleiten, statt sie in ein veraltetes System zu pressen. Dann macht auch Lehren wieder mehr Spaß und der Lehrkräftemangel hat sich erledigt! Dies erfordert Investitionen sowohl in die Infrastruktur als auch in Lehr-, Kita- und Krippenpersonal und in die Gemeinschaft, aber es lohnt sich. So kann es jedenfalls nicht weitergehen.

In der Medizin brauchen wir gerade in den Ballungsräumen mehr Kinderarztpraxen und höhere Fallpauschalen. Kinderkliniken und Geburtskliniken zu schließen, ist ein absolutes „No-Go“. Telefonische Krankschreibungen sollten dauerhaft ermöglicht werden, um Eltern bei kleineren Krankheitsfällen den Weg in die übervolle Praxis zu ersparen. Zusätzlich wären mehr Anlaufstellen hilfreich, die Eltern mit Rat zur Seite stehen, wenn das Kind mal wieder mitten in der Nacht oder am Wochenende hohes Fieber bekommen hat. So würden auch die Rettungsstellen entlastet.

Im Berufsleben müssen sowohl Frauen als auch Männer, die sich um ihre Kinder kümmern möchten, endlich als gleichwertige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen behandelt werden. Die Einführung von Tandemarbeit, bei der sich zwei ähnlich kompetente Menschen eine Stelle teilen, könnte eine Möglichkeit sein, Teilzeitarbeit aufzuwerten. Und Teilzeitarbeit braucht es, um Job und Familie vereinbaren und unseren Kindern wirklich gerecht werden zu können. Dafür müssen Hybridstellen gesetzlich gefördert werden.

Apropos Gesetze: In der Politik ist es dringend erforderlich, die Kinderrechte endlich wie im Koalitionsvertrag versprochen im Grundgesetz zu verankern. Denn nur so werden sie bei wichtigen Entscheidungen in Politik, Verwaltung und Recht mitberücksichtigt. 2021 scheiterte der Versuch mit der vorigen Regierung. Es bleibt zu hoffen, dass die jetzige Regierung sich durchsetzen kann, denn der Gegenwind ist groß. Die Einrichtung von Kinderparlamenten und die Senkung des Wahlalters auf 16 Jahre in allen Regionen wären weitere Schritte, um die Interessen und Bedürfnisse der jüngeren Generation besser zu vertreten. Nur weil man uns damals nicht hören wollte, heißt das nicht, dass das für immer so bleiben muss. Die vielen kleinen Verbesserungen für Familien reichen nicht aus, solange die Grundlagen nicht stimmen.

Mein Fazit

Kinder sind kein „Nice to have“, sondern die Zukunft! Deshalb ist es unumgänglich, Kinder zur Priorität zu machen. Trotz einiger Fortschritte fehlt es immer noch an grundlegendem Verständnis und echter Anerkennung für ihre Bedürfnisse. Im Grunde ein Skandal! Es ist an der Zeit, Kinder als einen wichtigen Teil unserer Gesellschaft anzuerkennen und sie entsprechend zu unterstützen. Dafür braucht es ein Umdenken auf allen Ebenen und konkrete Maßnahmen, angefangen bei der individuellen Wertschätzung bis hin zu strukturellen Reformen. Die politische Ebene spielt dabei eine entscheidende Rolle, und auch jeder für sich kann einen Beitrag leisten. Nur wenn wir gemeinsam für alle Kinder einstehen, können wir eine Zukunft schaffen, auf die wir stolz sein können – eine Zukunft, in der Kinder gerne aufwachsen und sich aktiv beteiligen möchten. 

Vielleicht sollten wir dafür mal auf die Straße gehen?

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Quellen

Veröffentlicht von Anke Modeß

Als waschechte Berlinerin und späte Mutter eines Schulkindes schreibt Anke seit 7 Jahren über Themen, die Babyeltern im Alltag beschäftigen - am allerliebsten mit einer Prise Humor.

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