Im Umgang mit anderen Menschen geschehen immer wieder Grenzüberschreitungen. Doch wo hören Grenzüberschreitungen auf und wann ist ein Mensch übergriffig? Auf diese Fragen gehen wir in diesem Artikel ein.
Das Wichtigste in Kürze
- Grenzüberschreitungen geschehen unabsichtlich und aus Unwissenheit heraus.
- Übergriffe sind absichtliche Vorgänge. In vielen Fällen kann ein Machtverhältnis zwischen dem übergriffigen Menschen und dem Menschen bestehen, der die Übergriffe erlebt.
- Es gibt körperliche, sprachliche und nonverbale Beispiele für Grenzüberschreitungen und Übergriffe.
- Übergriffe können zügig in Formen von Gewalt enden. Deshalb ist es wichtig, Grenzüberschreitungen und Übergriffe voneinander zu unterscheiden
- Es gibt Anlaufstellen und Hilfetelefone, wenn du Übergriffe erlebst oder mitbekommst.
Grenzüberschreitungen sind noch nicht übergriffig
Grenzüberschreitungen sind Handlungen, die unabsichtlich die Grenzen eines anderen Menschen überschreiten. Oftmals sind sie die Folge eigener Erziehung und nicht hinterfragter Glaubenssätze, die dann unbewusst an die nächste Generation weitergegeben werden. Stichwort: „Wieso, da ist doch nichts dabei. Das haben wir immer schon so gemacht. Das hat mir auch nicht geschadet.“
Beispiele für grenzüberschreitendes Verhalten
Körperlich:
- Jemand rempelt dich auf der Straße heftig an, weil die Person es eilig hat.
- Auf einer Party reibt eine fremde Person von hinten über deine Jacke, um Schmutz zu entfernen.
- In einer Diskussion fasst dich jemand am Oberarm an, um dir zu verstehen zu geben, nicht mehr weiterzusprechen.
Sprachlich:
- „Mein Enkelkind darf ich ja wohl auf den Mund küssen, so schenke ich ihm eben Liebe.“
- „Du fühlst dich ausgelaugt und bist mental am Ende? Bist du sicher, dass du nicht nur ein bisschen frische Luft brauchst?“
- „Ihr habt Probleme, schwanger zu werden? Ihr müsst einfach mal wieder in den Urlaub fahren, dann klappt das von ganz alleine.“
Non-Verbal:
- Eine andere Person ignoriert dich im Gespräch und spricht stattdessen ausschließlich mit der dritten Person.
- Jemand macht sich über dich und dein Verhalten vor anderen Menschen lustig.
- Ein Mensch kritisiert deine Entscheidungen vor deinen Freunden oder Partner.
Das ist bewusst übergriffiges Verhalten
Vielleicht ist dir der Begriff „Übergriffig“ schon mal in deinem eigenen Leben oder über die Medien begegnet. Nicht immer wird er korrekt benutzt. Denn er beschreibt einen unrechtmäßigen und bewussten, also absichtlichen Eingriff in den Bereich eines anderen Menschen.
Beispiele für übergriffiges Verhalten
Körperlich:
- Jemand berührt dich einfach so am Körper, während du mit Freunden auf einer Feier tanzt.
- Du bist schwanger und eine Person fasst deinen Bauch an, ohne dich vorher zu fragen.
- Beim Ausmessen deines Brautkleides geht der Verkäufer sehr grob und ungeduldig vor und verletzt dich dadurch am Rücken.
Sprachlich:
- „Du bist über 30 und hast noch keine Kinder? Da musst du dich aber ganz schön ranhalten jetzt, oder? Wird ja sonst ziemlich knapp.“
- „Das dritte Kind? Wie willst du das denn schaffen, du bist ja jetzt schon überfordert!“
- „Wie, du gibst deinem Kind keinen Zucker? Kinder brauchen doch Zucker. Also bei mir bekommt dein Kind immer Süßigkeiten.“
Non-Verbal:
- Im Bekleidungsgeschäft zieht die Verkäuferin in der Umkleide deinen Vorhang zur Seite, obwohl du noch drinstehst.
- Dein Chef begegnet dir mit Befehlston und setzt dich massiv unter Druck/droht dir, dass du sonst deinen Job verlierst.
- Dein Partner ist sauer auf dich und gibt vor deinen Freunden intime Details über dich preis. Er stellt dich bloß.
Wie unterscheiden sich Grenzüberschreitungen von übergriffigem Verhalten?
Vor allem Übergriffe können im schlimmsten Fall zügig in Gewalt enden. Deshalb ist es umso wichtiger, beide Begriffe genau zu unterscheiden. So kannst du das Verhalten deines Umfeldes besser einordnen und angemessen reagieren:
- Grenzüberschreitungen geschehen unabsichtlich
Gründe können persönliche Unzulänglichkeiten oder Unzufriedenheiten sein, frühere oder aktuelle Grenzerfahrungen/Grenzverletzungen der Person selbst und/oder gesellschaftlich verankerte Machtsysteme (älter – jünger, Führungsperson – Angestellte …). - Übergriffe sind absichtliche, gezielte Grenzüberschreitungen
Gründe können unzureichender Respekt dem anderen Menschen gegenüber sein, fehlende Sozialkompetenz oder mangelnde emotionale Reife. Manchmal (vor allem zwischen Erwachsenen und Kindern) besteht eine Machtposition des Menschen, der die Übergriffe begeht, die er oder sie bewusst ausnutzt (Adultismus).
Wichtig: Nicht immer lässt sich zwischen einer Grenzüberschreitung und bewussten Übergriffen eine Linie ziehen. Der Übergang ist fließend, je nachdem, wie oft und in welcher Art die Grenzüberschreitungen stattfinden. Außerdem spielen die eigene Wahrnehmung und Beurteilung des Verhaltens ebenfalls eine große Rolle.
Hast du ein „komisches Gefühl“ bei einer Situation, die du beobachtest oder selbst erlebst? Hast du Sorge, es könnte sich dabei um einen Übergriff handeln, bist dir aber unsicher?
- Hilfetelefon Sexueller Missbrauch – Telefonnummer: 0800 22 55 530
- „Nummer gegen Kummer“ Elterntelefon: 0800 111 0550
- Telefonseelsorge Deutschland: 0800 / 111 0 111 oder 0800 111 0 222 oder 116 123
Wie kann ich mich vor Übergriffen schützen?
Es ist nicht deine Verantwortung, wenn dir jemand übergriffig begegnet. Die trägt immer der Mensch, der sich übergriffig verhält. Dieser ist auch für die Konsequenzen seines Verhaltens verantwortlich.
Bei Grenzüberschreitungen sieht es anders aus. Hier kannst du deine eigenen Grenzen stärken, um dich bis zu einem gewissen Grad selbst zu schützen.
Wie erkenne ich eigene Grenzen?
Um die eigenen Grenzen zu äußern, musst du sie vorher festlegen. Frage dich daher etwa:
- Wann fühle ich mich erniedrigt von einer anderen Person?
- Wie fühlt es sich an, wenn mich jemand berührt, ohne dass ich das will?
- Was möchte ich am liebsten sagen, wenn mir jemand etwas sagt, was die Person nichts angeht?
- Wann habe ich das Gefühl, jemand entscheidet über mich, über meine Worte, meine Gefühle oder über meinen Körper?
- Wann mache ich etwas mit Widerwillen, weil jemand anderes mich mit seinen Worten oder Handlungen dazu drängt?
Wie benenne ich meine eigenen Grenzen?
Das Benennen der eigenen Grenzen ist ein wichtiger Schritt, um sich selbst zu stärken. Wenn du sonst nur selten für dich einstehst, kann dir das unter Umständen schwerfallen. Auch kannst du mit teils irritierten Reaktionen deiner Mitmenschen rechnen, wenn du vorher mit deinen Bedürfnissen, Wünschen und Grenzen eher zurückhaltend warst. Wir wollen dich ermutigen, ab jetzt für dich und deine Grenzen einzustehen, um dich selbst vor Grenzüberschreitungen bis zu einem gewissen Grad zu schützen. Das kann etwa so aussehen:
- Stärke deine Persönlichkeit: Besuche Kurse über Persönlichkeitsentwicklung und Selbstentfaltung, lerne dein „wahres Ich“ kennen. Behaupte dich selbst und stehe für dich ein, etwa im Rahmen von Selbstbewusstseins- und Selbstbehauptungskursen. Tue etwas für dich und gehe geliebten Hobbys und Aktivitäten nach. Werde dir selbst eine gute Freundin/ein guter Freund. So kannst du Gegenwind, Vorwürfe oder grenzüberschreitende Menschen besser aushalten und ihnen möglicherweise mit Klarheit begegnen.
- Benenne deine Grenzen: Wenn du deine Grenzen weißt, mache sie deinen Mitmenschen klar. Bleibe respektvoll, aber bestimmt. Bedenke: Das Wort „Nein“ ist ein ganzer Satz! Es sollte von deinen Mitmenschen respektiert werden, wenn du etwas nicht möchtest.
- Konsequenzen ziehen: Wenn die grenzüberschreitenden Menschen ihr Verhalten weiterhin nicht hinterfragen, ist das nicht dein Problem. Du kannst aber wählen, wie du darauf reagieren möchtest. Vielleicht kannst du dich von der grenzüberschreitenden Person zurückziehen oder liebe Menschen hinzuziehen, die dir den Rücken stärken. Stehe weiterhin für dich und deine Bedürfnisse ein.
Wann habe ich in der Vergangenheit schon mal die Grenzen von anderen missachtet?
Wenn du deine eigenen Grenzen benennen und schützen möchtest, bemerkst du möglicherweise auch die Grenzen deiner Mitmenschen. Vielleicht erkennst du beim Hinterfragen, dass auch du schon mal (unabsichtlich) die Grenzen eines anderen übergangen hast. Frage dich daher etwa:
- Hat die Person sich mir gegenüber irgendwann anders verhalten?
- Habe ich es kurz nach der Situation gemerkt?
- Kann ich die Situation vielleicht jetzt noch aufklären/lösen und mit der Person ins Gespräch gehen?
Das zu hinterfragen, kann anstrengend und schmerzhaft sein. Bedenke, dass du dein Bestes gibst und dass wir Menschen allesamt schon einmal unbewusst die Grenzen eines Anderen überschritten haben, ohne es zu wollen. Der erste Schritt zur Veränderung ist diese Erkenntnis. Sie hilft dir, deine Zukunft anders zu gestalten und achtsamer mit dir und deinen Mitmenschen umzugehen.
Fazit
Der Übergang zwischen Grenzüberschreitungen und übergriffigem Verhalten ist oft fließend. Dennoch muss klar zwischen beiden Begriffen unterschieden werden. Grenzüberschreitungen geschehen unabsichtlich, während Übergriffe ein bewusstes Verhalten darstellen. Die Verantwortung für Grenzüberschreitungen und übergriffiges Verhalten liegt immer bei den Personen, die sie ausüben. Dennoch kannst du dich vor grenzüberschreitendem Verhalten bis zu einem gewissen Grad schützen, indem du dir deine Grenzen bewusst machst und diese benennst.
Grenzüberschreitungen geschehen zwischen Menschen immer wieder unbewusst. Der erste Schritt der Erkenntnis ist, das eigene Verhalten zu hinterfragen und offene Konflikte oder Situationen aufzuklären.
Quellen
- Bürgin, Dieter (1993). Psychosomatik im Kindes- und Jugendalter. Stuttgart: Gustav Fischer Verlag.
- Caby, Filip und Andrea (2011). Die kleine psychotherapeutische Schatzkiste. Tipps und Tricks für kleine und große Probleme vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter. (2. Auflage). Dortmund: Borgmann Media.
- Greving, Prof. Dr. Heinrich, Ondracek, Prof. Dr. Petr (2010): Handbuch Heilpädagogik. (2. Auflage) Troisdorf: Bildungsverlag EINS GmbH.
- Perls, Frederick S., Hefferline, Ralph F., Goodman, Paul (2015). Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung. (9. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
- Siegel, Elaine V. (1997): Tanztherapie. Seelische und körperliche Entwicklung im Spiegel der Bewegung. Ein psychoanalytisches Konzept. (4. Auflage) Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (2020): Hinsehen und Hilfe einholen bei Verdacht auf Kindesmissbrauch. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/aktuelles/alle-meldungen/hinsehen-und-hilfe-holen-bei-verdacht-auf-kindesmissbrauch-156416 (abgerufen am 25.08.2022)
- Bundeszentrale für politische Bildung (2022): Gewalt. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17566/gewalt/ (abgerufen am 01.09.2022)
- Stadt Wien (2022): Formen der Gewalt gegen Frauen. https://www.wien.gv.at/menschen/frauen/stichwort/gewalt/formen.html (abgerufen am 01.09.2022)
- Zentrum Bildung der EKHN, Fachbereich Kindertagesstätten (2022): Positionspapier Grenzüberschreitungen. https://kita.zentrumbildung-ekhn.de/fileadmin/content/kita/6Service/Positionspapiere/Positionspapier_Grenzueberschreitungen_final.pdf (abgerufen am 25.08.2022)
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