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„Ist doch gar nicht so schlimm!“ – Wieso wir unsere weinenden Kinder ernst nehmen und trösten sollten. 

Ist doch gar nicht so schlimm Wieso wir unsere weinenden Kinder ernst nehmen sollten. 2 - "Ist doch gar nicht so schlimm!" – Wieso wir unsere weinenden Kinder ernst nehmen und trösten sollten. 
Liebevolles Trösten ist wichtig – für Kind und Eltern / Bild ©Halfpoint, Adobe Stock

Ablenken statt trösten: Warum machen wir Eltern das und was macht das mit unseren Babys und Kleinkindern? 

Die allmorgendliche Trennung von den Eltern vor Kita und Schule, ein Sturz oder ein Missgeschick, Schmerzen oder einfach mal Frust und schon kullern die Tränen – wenn Kinder weinen, kommt es noch immer vor, dass Eltern, Großeltern oder die Bezugsperson kurz trösten und dann versuchen, das Kleine vom Schmerz oder der Trauer abzulenken. Dabei ist es wichtig für Kinder weinen zu dürfen und dann auch richtig getröstet zu werden.

Warum lenken wir unsere weinenden Kinder ab?

Jeder von uns hat sicher schon mal bewusst oder unbewusst abgelenkt statt, richtig zu trösten. Der Mann einer Nachbarin versorgt seine weinenden Kinder sogar jedes Mal sofort mit Schokolade oder Versprechen von Spielzeugen, wenn die Tränen kullern. Aber warum machen wir Eltern das? Manchmal ist gerade einfach keine Zeit dafür, denken wir, oder der Ort ist falsch. Manchmal ist es gelerntes Verhalten. Es wurde uns anerzogen. Heißt: Wir kennen das aus unserer Kindheit. Ist doch gar nicht so schlimm! Stell dich nicht so an! So oder so ähnlich haben Eltern und Großeltern Generationen vor uns manchmal  auf Tränen von Kindern reagiert. Und damit auch vielen Erwachsenen die Fähigkeit, ihre Gefühle durch Weinen auszudrücken und zu teilen und sich selbst zu trösten, eingeschränkt. 

Wenn Kinder weinen, fühlen sich vor allem die Eltern manchmal überfordert und gestresst. Sie wollen das Weinen abstellen. Und das löst den Drang aus, etwas tun zu wollen, das hilft. Hilflosigkeit ist also ein Grund, warum wir ins Handeln kommen wollen und dann zur Ablenkung greifen, statt die Emotionen unseres Kindes auszuhalten. 

Was macht es mit unseren Babys und Kleinkindern, wenn wir nicht richtig trösten? 

Wenn wir die Frage lesen und drüber nachdenken, fallen uns bestimmt schon einige Antworten darauf ein: Die Kinder fühlen sich allein gelassen, Emotionen werden unterdrückt, das Vertrauen sinkt, die Kinder stumpfen ab, die Bindung zu den Eltern und Bezugspersonen leidet. Auf keinen Fall macht es Kinder stark!!! Und Forscher haben auch nachgewiesen, dass es neurologische Zusammenhänge gibt, die zeigen, wie wichtig Trost und Emotionen aller Art für die gesunde Entwicklung unserer Kinder ist:  

Das Nervensystem des Kindes ist bei der Geburt nur teilweise entwickelt. Es reift erst noch aus. Deshalb ist es umso wichtiger, dass wir Erwachsenen das Kind unterstützen und helfen, wenn Angst, Wut und Stress das Nervensystem durcheinander bringen.

Wenn Säuglinge und Kleinkinder weinen, schreien, sich ärgern und frustriert sind, ist das autonome Nervensystem aus dem Gleichgewicht geraten. In einem Artikel im Familienhandbuch werden Experten der Neurologie zum Thema zitiert: Der anregende und reizbare Zweig dieses Systems ist überaktiv – der ruhige und ausgleichende Zweig ist unteraktiv. Bei dem Kind wird in diesem Zustand eine große Menge Adrenalin freigesetzt. Die Herzfrequenz ist hoch, der Blutdruck auch, es atmet schnell, spannt die Muskeln an und beginnt zu schwitzen. Das Stressreaktionssystem läuft auf Hochtouren. 

Die britische Kinderpsychologin und Psychotherapeutin Margot Sunderland beschreibt diesen Vorgang so: „Durch den zunehmenden Kummer wird in einem schreienden Baby eine hormonelle Kettenreaktion in Gang gesetzt. Sie beginnt in einem Teil des unteren Gehirns, dem Hypothalamus, der allgemeinen hormonellen Steuerungszentrale. Der Hypothalamus produziert ein Hormon, das die nahe gelegene Hypophyse zur Freisetzung eines weiteren Hormons, des ACTH, veranlasst. Dieses wiederum stimuliert die Nebennierenrinde, das Stresshormon Kortison freizusetzen, das dann Gehirn und Körper überschwemmt. Bei einem leidenden Baby ist dieses System höchst aktiv und setzt große Mengen von Kortison frei – vergleichbar mit einer Zentralheizung, die nicht abgeschaltet werden kann. Das Beruhigen des Babys deaktiviert dieses System.“

Wir haben ein eingebautes Stress-Schutzsystem

Das Stressreaktionssystem dient dem Schutz des Menschen und ist dazu da, einem jammerndem Baby oder quengelndem Kleinkind zu helfen. Hier müssen Eltern nicht “übertrieben” trösten. In solchen Situationen lernt ein Kind Frusttoleranz. Aber Eltern sollten da sein, wenn das Kind es braucht. Wirklich gefährlich und schädlich wird es für Babys und Kinder laut Forschung, wenn Kummer, Schmerz und Ärger zu lange andauern. Dann steigt der Kortisonspiegel im Gehirn des Kindes an und bleibt auf einer Höhe, die toxische Ausmaße annehmen kann. Das können wir uns so vorstellen, als arbeite dann das Gehirn des Kindes in einem Raum giftiger Dämpfe.

Und das kann Schlüsselsysteme in der Gehirnentwicklung einschränken und sogar schädigen. Solche Kinder bilden ein überempfindliches Stressreaktionssystem aus. Sie reagieren bei Außenreizen hochsensibel und das spätere Leben kann dadurch stressreich werden. Empirische Studien belegen außerdem, dass Kinder mit einem überempfindlichen Stressreaktionssystem anfällig sind für Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Erkrankungen und Alkoholmissbrauch. 

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Warum das Trösten so wichtig für Babys und Kleinkinder ist

Das war jetzt ziemlich viel Wissenschaft, aber nötig, um zu verstehen, was wir Eltern für unsere Kinder tun können. Denn der Gegenspieler zum Stressreaktionssystem ist der Vagusnerv. Er sitzt im Gehirnstamm und reguliert die Funktion der wichtigsten Körperorgane. Der Vagusnerv kann in kürzester Zeit das durch Schock oder Stress ausgelöste Durcheinander im Körper wieder ordnen und harmonisieren. Aber um das zu lernen, brauchen unsere Kinder gute, tröstende und beruhigende Vorbilder, die das Kind begleiten wenn es seine Emotionen zeigt.

Die Professorin Sunderland rät den Eltern deshalb: „Eines der größten Geschenke, das Sie ihrem Kind machen können, ist, ihm zu helfen, einen ausreichenden Vagotonus auszubilden. Das bedeutet, dass der Vagusnerv in seiner gesamten beruhigenden, regulierenden Funktion gut arbeitet. Die Forschung zeigt, dass ein guter Vagotonus mit emotionaler Ausgeglichenheit, klarem Denken, besserer Aufmerksamkeit und einem effizienteren Immunsystem zusammenhängt. Menschen mit einem guten Vagotonus hat man meist gerne um sich.“ 

Wenn schon kleine Kinder nicht getröstet und in ihrem Kummer, Ärger und in ihrer Verzweiflung allein gelassen werden, dann drohen Schädigungen ihres neuronalen Systems. Werden sie getröstet und beruhigt, stärken Eltern und Bezugspersonen damit die physische und psychische Stabilität.

Wie Eltern Kinder richtig trösten

Unsere Kinder brauchen unsere Unterstützung, um mit negativen Erfahrungen umgehen zu lernen. Nur mit der Hilfe von Erwachsenen als gute Vorbilder lernen Babys und Kleinkinder mit Ärger, Wut und Frust fertig zu werden. So kann Trösten, das Dasein und uhören eine heilsame Erfahrung sein und sich auf ein gesundes Nervensystem auswirken.

Dos and Don'ts beim Trösten: 

Nicht versuchen, das Weinen abzustellen, denn Weinen ist gesund! Tränen enthalten das Stresshormon Cortisol und das wird beim Weinen aus dem Körper transportiert. So kommt das Nervensystem wieder ins Gleichgewicht. Wenn Kinder ihre Gefühle nicht über das Weinen zeigen oder herauslassen dürfen, bleibt im Kind haften, dass es gute Gefühle wie Freude gibt und schlechte Gefühle wie Trauer oder Wut. Aber jedes Gefühl ist richtig und wichtig und sollte deshalb auch gezeigt werden dürfen. 

  • Gefühl der Kinder immer ernst nehmen! Auch, wenn wir eine andere Meinung haben oder nicht verstehen.
  • Den Frust, die Trauer oder die Wut und Enttäuschung der kleinen Menschen nicht verharmlosen, bagatellisieren oder abtun.  
  • Kinder nicht von ihren eigenen Gefühlen ablenken, sondern unterstützen. Anerkennende Sätze wie, “Das macht dich jetzt traurig, oder?”, “Hat dich das Geärgert?”, „Das hat wohl weh getan?” können hilfreich sein. 
  • Aber auch nicht übertreiben und selbst in Panik geraten mit Sätzen wie, “Oh, wie schlimm”, “So etwas Schlimmes aber auch!”.
  • Als Erwachsener ruhig bleiben und tröstend zur Seite stehen, das Kind trauern lassen. Denn die Ruhe des Nervensystems des Erwachsenen überträgt sich auf das kindliche System. Die Unruhe aber auch. In dem Fall ist vielleicht ein anderer Erwachsener zur Stelle, der in Ruhe trösten kann. 
  • Körperliche Nähe beruhigt schon Säuglinge sehr schnell und ist auch bei älteren Kindern wichtig. Das kann als Hand auflegen, den Kopf halten bis zu in den Arm nehmen helfen, die Gefühle anzunehmen und das Kind kann sich beruhigen. 
  • Wärme kann auch trösten. Dabei kann diese durch eine warme Hand, eine liebevolle Umarmung entstehen, ein Bad oder eine kuschelige Decke. Das hat vor allem bei Babys und Kleinkindern eine beruhigende Wirkung, denn Wärme setzt im Gehirn auch das Kuschelhormon Oxytocin frei. 
  • Auch Singen kann kleine und größere Kinder gut trösten. Die vertraute Stimme und Melodie helfen sich zu beruhigen. Genauso wie sanftes hin und her Wiegen, dass an die Zeit im Mutterleib erinnert. 
  • Nicht mit Geschenken und Süßigkeiten trösten oder ablenken. Das kann zu späterem eigenen Trostverhalten als Erwachsener (Trostsuchen durch Schokolade oder Alkohol) mit Konsum oder Abhängigkeiten führen. Dein Kind darf lernen, dass starke und intensive Gefühle wie Trauer nichts Schlimmes sind, was man verdrängen, „wiedergutmachen“ oder „wegmachen“ muss über Geschenke, Süßigkeiten und Co. Das wird ihm helfen, eine gesunde Frustrationstoleranz und Emotionsregulation zu entwickeln.
  • Das Kind Wissen lassen: Weinen ist ok, negative Emotionen gehören zum Leben dazu. Sie dürfen durchlebt werden. Werden diese unterdrückt, können sie anderweitig herauskommen und schaden. 
  • Du darfst dein Kind gerne auch im Alltag immer wieder daran erinnern, dass jedes Gefühl seine Berechtigung hat und gezeigt werden darf. Wenn du ihm hier ein Vordbild bist, wird es dich automatisch nachahmen.

Getröstete Kinder werden gesunde Erwachsene, die gute Strategien haben, in Stresssituationen gut für sich sorgen zu können. Wenn wir unsere Kinder trösten, lernen diese aber nicht nur, mit ihren eigenen Gefühlen gut umzugehen, sondern auch Empathie gegenüber anderen zu zeigen. Und Trost spendende Eltern fühlen sich auch besser. Denn sie sind für ihre Kinder da und das wirkt sich ein Leben lang auf eine gute Beziehung zwischen Eltern und Kind aus. 

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Quellen

Veröffentlicht von Nina Gaglio

Nina ist Mama eines Grundschulkindes und seit 25 Jahren leidenschaftliche Reporterin und Redakteurin. Angefangen hat alles beim Fernsehen, wo Nina neben ihrem Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaften Studium erste Erfahrungen sammeln konnte und dann 12 Jahre blieb. Danach kam viel PR und der Onlinejournalismus dazu. Familien- und Kinderthemen und die Arbeit mit Experten aus diesen Bereichen gehörte auch zum Redaktionsalltag. Und so war es nur logisch, dass Nina nach dem Mutterwerden auch für Parenting-Magazine schrieb.

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