Wenn das Kind den Eltern egal ist, spricht man vom vernachlässigenden Erziehungsstil. Wie gravierend sich dieser auf die Entwicklung des Kindes auswirkt und wie er sich im Alltag äußert, beschreiben wir in diesem Artikel.
Das Wichtigste in Kürze
- Erziehungsstil: Mischung aus Grundeinstellung, Erziehungsziel und elterlichem Verhalten
- Der vernachlässigende Erziehungsstil: einer von vier Stilen nach Maccoby und Martin
- Kaum als Stil zu bezeichnen, weil er selten bewusst gewählt wird.
- Ging wie der verwöhnende aus dem permissiven Erziehungsstil hervor. Der Unterschied ist die grundverschiedene Motivation der Eltern.
- Kaum elterliche Kontrolle und wenig emotionale Wärme
- Kinder sind auf sich allein gestellt
- Laut Studien der fatalste Stil in der Kindererziehung
Keine Anforderungen, keine Regeln und viel zu wenig Liebe – das kennzeichnet den vernachlässigenden beziehungsweise den negierenden Erziehungsstil. Für das Kind ist er der schlimmste.
Diana Baumrind ordnete diese Art der Erziehung bzw. Nicht-Erziehung dem permissiven Erziehungsstil zu. Eleanor Maccoby und John A. Martin entwickelten Baumrinds Modell weiter und unterteilten den permissiven in den verwöhnenden und den vernachlässigenden Stil. Ihr Modell umfasst daher vier statt Baumrinds drei Erziehungsstile. In unserem Übersichts-Artikel über Erziehungsstile bekommst du einen guten Überblick.
Der vernachlässigende Erziehungsstil: das Kind läuft nebenher
Manche Kinder müssen früh selbstständig werden. Ihre Eltern können oder wollen wichtige Teile der Versorgung und Erziehung nicht selbst übernehmen. Also muss das Kind es selbst schaffen, auch wenn es dafür noch viel zu klein ist. Regeln gibt es nicht. Wie sich das Kind entwickelt, ist den Eltern egal.
Selten ist das pure Absicht der Erziehungsberechtigten. Meist stecken andere Dinge wie Unerfahrenheit, Hilflosigkeit / Überforderung, Depressionen oder Sucht dahinter. Manchmal auch eine schwere Krankheit oder gar der Tod eines Erziehungsberechtigten.
Es gibt verschiedene Arten der Vernachlässigung, die meist zusammen auftreten, aber nicht immer:
- Körperliche Vernachlässigung – das Kind bekommt keine ordentlichen Mahlzeiten und ist demzufolge unterernährt. Auch mangelnde Hygiene und fehlende medizinische Vorsorge und Versorgung gehören dazu.
- Emotionale Vernachlässigung – das Kind bekommt keine Liebe, Zuwendung oder Schutz. Seine Bedürfnisse interessieren nicht. Es wird von seinen Eltern respektlos behandelt und als störend empfunden. Die Beziehung ist eher distanziert und zurückweisend, eine Bindung so gut wie nicht vorhanden.
- Kognitive (geistige) Vernachlässigung – Eltern spielen oder sprechen nicht mit ihrem Kind. Es gibt kaum altersgerechtes Spielzeug. Ausflüge werden nicht unternommen. Eventuell besucht es die Betreuungseinrichtung oder Schule nur unregelmäßig, wenn überhaupt.
- Erzieherische Vernachlässigung – Es gibt keine Regeln und keine Tagesstruktur. Die Eltern sind Kind gegenüber passiv. Eine Korrektur von Verhaltensweisen findet nicht statt.
- Unzureichende Beaufsichtigung – das Kind ist meist ohne Aufsicht allein unterwegs und zu Hause ebenfalls oft auf sich gestellt. Bleibt es lange weg, interessiert das niemanden. Auch nicht, wo oder mit wem es unterwegs war.
Den meisten Eltern wird schon beim Lesen dieser Liste zurecht unwohl. Vielleicht kennst du kein Kind, das so aufwachsen muss. Oder doch? Im nächsten Abschnitt findest du Beispiele für den vernachlässigenden Erziehungsstil.
Wichtig: Vernachlässigung und Kindesmisshandlung oder Missbrauch sind nicht dasselbe. Trotzdem treten sie oft zusammen auf. Denn wenn das Wohl des Kindes keine Rolle spielt, sinkt die Hemmschwelle für Übergriffe.
Wenn du beobachtest, dass Kinder stark vernachlässigt oder gar misshandelt werden, kannst du deinen Verdacht dem Jugendamt melden. Das bedeutet nicht automatisch, dass die Kinder weggenommen werden, kann es aber. Deshalb solltest du nicht vorschnell agieren. Subjektive Einschätzungen müssen nicht zutreffen, können für Kinder und Eltern im schlimmsten Fall jedoch viel Leid nach sich ziehen. Einschreiten oder nicht? Dieser Artikel hilft dir weiter.
Vernachlässigende Erziehung anhand von Beispielen
„Emil (6) lebt bei seiner Mutter. Seit Papa weg ist, muss sie sich allein um alles kümmern. Die Großeltern sind weit weg. Vor Monaten hat Emils Mutter ihren Job verloren. Sie ist oft traurig und trinkt viel zu viel. Dann ist sie ganz weit weg. Waschen, anziehen, Frühstück, der Weg zur Schule und zurück … all das macht Emil allein. Oft hat er in der Brotbox nur ein trockenes Brötchen. Wenn es wieder ganz schlimm ist und seine Mutter den ganzen Tag auf der Couch liegt, passt er auf, dass sie auch etwas zu essen bekommt. Nudeln kochen kann er schon. Einkaufen auch. Die Leute gucken zwar komisch im Supermarkt, freuen sich aber, dass der dünne, blasse Junge schon so selbstständig ist.“
„Paulina (1) hockt im Laufstall und stapelt Bauklötze. Ihre Mutter sitzt mit ausdruckslosem Gesicht in der Nähe und tippt Nachrichten in ihr Handy. Der Turm fällt um. Paulina weint. Die Mutter nimmt kaum Notiz davon. Zu sehr ist sie in Gedanken woanders. Elternzeit ist so öde und Kind bespielen nervt. Auch als sich Paulina ans Gitter stellt und nach ihr schreit reagiert sie nicht. Sie wird sich schon beruhigen. Die Mutter setzt die Kopfhörer auf und macht sich Musik an. Nach einer halben Stunde ist Ruhe. Paulina ist im Laufstall schluchzend eingeschlafen. Na geht doch. Ach, es ist ja schon zwei Uhr, vielleicht hatte sie Hunger? Na ja, sie wird ihr nachher ein bisschen Brot geben, davon müsste noch was da sein.“
„Leo (3) sitzt in seinem Zimmer und sieht mit seinem siebenjährigen Bruder fern. Schon seit drei Stunden. Sein Vater sitzt im Wohnzimmer und zockt Playstation mit seinem Freunden. Die Mutter ist auf Schichtarbeit. Es stinkt nach Qualm, aber das kennt er schon. Trotzdem geht Leo hin, denn er hat noch Hunger. Sein Vater wirft ihm eine Packung Chips zu und schickt ihn wieder aufs Zimmer. Es ist zwanzig Uhr und langsam wird er müde. Irgendwann wird er vor dem TV einschlafen, so wie meistens. Zähne geputzt hat er keine. Dazu hat er sowieso keine Lust und Papa ist es auch egal.“
Kaum Vorteile für vernachlässigte Kinder
Es gibt nur wenige Vorteile, die diese Form der Nicht-Erziehung mit sich bringt. Manchen Kindern gelingt es früher als anderen, verantwortungsvolle Aufgaben zu übernehmen. Sie werden gezwungenermaßen zu Kümmerern. Meist ist das nur der Fall, wenn die Situation eintritt, nachdem ihr Elternhaus in den ersten Lebensjahren noch intakt war. Einfach Kind sein zu dürfen, bleibt auf der Strecke.
Wie sich vernachlässigte Babys und Kleinkinder entwickeln, hängt vor allem davon ab, wie ihr Umfeld das Verhalten der Eltern abfedern kann – wenn sich beispielsweise die Großeltern stattdessen kümmern.
Jede Menge Nachteile beim vernachlässigenden Erziehungsstil
In den ersten drei Lebensjahren ist Vernachlässigung besonders kritisch. Denn in diesen Jahren wird der Grundstein für die soziale, emotionale und kognitive Entwicklung gelegt. Wenn kleine Kinder vernachlässigt werden, sind die Folgen meist gravierend.
Die Bindung zu den Eltern ist komplett gestört. Viele Kinder sind krankheitsanfällig, zurückgezogen und ängstlich. Sie trauen sich nichts zu, ihr Selbstbewusstsein ist nur mangelhaft entwickelt. In der Schule schneiden sie schlechter ab, als der Durchschnitt.
Manche versuchen, ihre Unsicherheit durch aggressives Verhalten zu kompensieren. Selbst regulieren können sie sich nur schwer. In Gruppen zeigen sie kein normales Sozialverhalten. Im späteren Leben haben sie Probleme, sich zu binden und / oder ihren eigenen Kindern genug Liebe zu geben.
Vernachlässigte Kinder leiden nicht nur psychisch, sondern oft auch gesundheitlich an den Folgen falscher Ernährung und mangelnder Hygiene. Schon Säuglinge haben ein höheres Risiko zu erkranken oder gar zu versterben (plötzlicher Kindstod).
Studie: erhöhtes Risiko für spätere Selbsttötung
Eine 2014 veröffentlichte deutsche Studie benennt den vernachlässigenden Erziehungsstil als einen wichtigen Risikofaktor für Suizidgedanken und Selbsttötungsversuche bei Jugendlichen.
Die Forscher befragten bereits 2007/2008 44.610 Neuntklässler zu ihren Lebensumständen und den Erziehungsmethoden ihrer Eltern. Dabei kristallisierten sich 13 Faktoren heraus, die das Suizidrisiko entweder erhöhten oder verringerten.
Neben Rauchverhalten und Alkoholnutzung, Geschlecht und Einschränkungen wie ADHS und anderen Faktoren, waren Erziehungsstile signifikante Indikatoren für die psychische Gesundheit des Teenagers. So hatten autoritativ erzogene Kinder ein verringertes Risiko für Suizidgedanken und vernachlässigte Kinder ein deutlich erhöhtes Risiko.
Auch wenn Suizidgedanken und sogar Selbsttötungsversuche im Teenager-Alter leider nicht selten sind: Eltern können das Selbstwertgefühl ihrer Kinder durch Wärme und Zugewandtheit und ein gewisses Maß an Regeln positiv beeinflussen. Es bleibt zu hoffen, dass vernachlässigte Kinder früh identifiziert und ihrer Entwicklung unterstützt werden können. Und dass die Strukturen hierfür zum Schutz der Kinder verbessert werden.
Weitere Erziehungsstile:
Habt ihr Berührungspunkte mit dem vernachlässigenden Erziehungsstil? Kennt ihr Eltern, bei denen das der Standard ist? Schreibt uns eure Erfahrungen in die Kommentare!
Quellen
- Das Netz für Sozialwirtschaft: Erziehungsstil: https://www.socialnet.de/lexikon/Erziehungsstil (abgerufen am 15.09.2021)
- Hilfen zum Umgang mit vernachlässigten und gefährdeten Kindern: https://www.kita-fachtexte.de/fileadmin/Redaktion/Publikationen/FT_weigeltII_2011.pdf (abgerufen am 15.09.2021)
- Parenting Styles: A Closer Look at a Well-Known Concept: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6323136/ (abgerufen am 15.09.2021)
- Eleanor Maccoby und John A. Martin: Socialization in the context of the family. Parent child interaction. in E. Mavis Hetherington,
Handbook of child psychology 4: Socialization, personality, and social development. New York: John Wiley & Sons, 1983 - Studie: Is parenting style a predictor of suicide attempts in a representative sample of adolescents? https://bmcpediatr.biomedcentral.com/articles/10.1186/1471-2431-14-113 (abgerufen am 15.09.2021)
- Neurologen und Psychiater im Netz: Traumatische Erfahrungen können an die nächste Generation weitergegeben werden – Familien brauchen gezielte Unterstützung: https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/kinder-jugendpsychiatrie-psychosomatik-und-psychotherapie/ratgeber-archiv/artikel/traumatische-erfahrungen-koennen-an-die-naechste-generation-weitergegeben-werden-familien-brauchen-gezielte-unterstuetzung/ (abgerufen am 24.07.2024)
- Bild: Hoffnungsloses Leben. Nahaufnahme eines depressiven kleinen Mädchens, das in der Nähe des Fensters steht und zur Seite schaut, während es sich traurig fühlt YAKOBCHUK VIACHESLAV / Shutterstock.com