Soll man Babys schreien lassen, oder lieber nicht? Ratschläge von außen können Eltern enorm verunsichern. Brauchst du Gegenargumente? Wir nennen 5 mögliche Folgen, die gezieltes Schreienlassen bei Babys haben kann.
Ob man Babys schreien lassen sollte oder nicht, wird gerade auf Social Media immer wieder heiß diskutiert. Auch ältere Generationen sparen oft nicht mit guten Ratschlägen. Derzeit gibt es eine „pro schreien lassen Welle“, die auf einer kleinen australischen Studie von 2020 beruht: Forschende wollten herausfinden, ob schreien lassen beim Einschlafen wie bei der Ferber Methode negative Effekte hat. Unsere Einschätzung:
- Das Studiendesign lässt viele Fragen offen: Es gab nur wenige Teilnehmende, viele Abbrüche und die Datenerhebung zum Schlaftraining basierte auf Elternfragebögen.
- Die Schlussfolgerung der Wissenschaftler – schon kleine Säuglinge beim Schlaftraining schreien zu lassen sei prinzipiell okay – ist fragwürdig.
- Die Ergebnisse sind so nicht übertragbar, wurden aber trotzdem von manchen Fachzeitschriften als allgemeingültige Wahrheit vermittelt.
Wir möchten dir Tipps geben, wie du dagegen argumentieren kannst. Denn ein Baby schreien zu lassen, ist aus Sicht vieler Experten und Expertinnen nur in Ausnahmefällen okay: nämlich dann, wenn du selbst so überfordert bist, dass du dich und dein Kind vor deinem gestressten Ich schützen musst. Nicht jedoch, um es gezielt zu trainieren.
Folgende Probleme kann absichtliches Schreienlassen bei Babys begünstigen:
1. Weniger Bindungshormone im Kleinkindalter
Ob Hunger, Schmerzen oder Einsamkeit, junge Babys teilen uns ihre Bedürfnisse auch durch Schreien mit. Wenn Eltern darauf prompt eingehen, wird die Bindung zwischen ihnen und ihrem Kind gestärkt. Das Bindungshormon Oxytocin steigt an. Möglicherweise wird die Hormonproduktion sogar dauerhaft beeinflusst, denn in einer Studie offenbarte sich: Babys, die wissen, dass ihre Bedürfnisse zuverlässig erfüllt werden, haben noch im Kleinkindalter einen höheren Bindungshormonspiegel als Kinder, deren Weinen als Baby häufiger ignoriert wurde. Die Kinder mit weniger Oxytocin im Blut könnten es daher schwerer haben, sich später auch an andere Menschen zu binden.
2. Geringere Stresstoleranz in späteren Jahren
Wenn Babys übermäßig schreien gelassen werden, sind sie sehr gestresst und ängstlich. Übermäßig viele Stressreaktionen im frühkindlichen Alter könnten sich negativ auf die langfristige Entwicklung des kindlichen Gehirns und des gesamten Stresssystems auswirken. Zu diesem Schluss kommt Psychologin Monique Maute in ihrer Doktorarbeit. Sie hatte herausgefunden, dass Kinder, deren Eltern kontrolliertes Schreienlassen im Babyalter praktiziert hatten, später gestresster auf Babyschreie reagierten als andere. Daraus schlussfolgerte sie, dass die negativen Erfahrungen gespeichert bleiben und das weitere Leben beeinflussen könnten.
3. Verzögerte Entwicklung und gesundheitliche Probleme
Die Entwicklung des Kindes kann sich verzögern, wenn der Stresslevel permanent hoch ist. Das kann daran liegen, dass sich großer Stress auf Blutdruck und Blutzirkulation im Gehirn auswirkt. Babys und Kinder benötigen laut dem renommierten, US-amerikanischen Kinderarzt Dr. Sears jedoch Ruhe und Sicherheit, um gesund zu wachsen und sich bestmöglich zu entwickeln.
4. Schlechtere statt bessere Selbstregulationsfähigkeiten
Anders als viele meinen mögen, sind Babys auf die Unterstützung ihrer Eltern angewiesen, um Fähigkeiten zur Selbstberuhigung zu entwickeln. Legt man das Baby schreiend hin und es schläft tatsächlich ein, hat es sich nicht selbst beruhigt, sondern laut Experten aufgegeben. Wenn Eltern nicht auf die Bedürfnisse des Kindes eingehen, gerät es in Stress, der das Erlernen der Selbstregulation blockieren kann.
5. Weniger Urvertrauen und spätere Bindungsstörungen
Wenn Babys erfahren, dass ihre Bedürfnisse von den Eltern beachtet werden, entwickeln sie eine sichere Eltern-Kind-Bindung. Auf dieser Grundlage lernen sie, ihrer Umgebung und den Menschen um sie herum zu vertrauen. Andersherum kann gezieltes Schreienlassen dieses „Urvertrauen“ beschädigen. Sie können Bindungsstörungen entwickeln. Und das kann langfristige Auswirkungen auf soziale und emotionale Fähigkeiten haben.
Fazit: Baby schreien lassen nur als letzte Option
Ein Baby schreien zu lassen, scheint also auch aus wissenschaftlicher Sicht eher ungünstig als günstig, wenn die Eltern es gezielt einsetzen, um das Kind zu trainieren. Das gilt für Babys bis zu einem Jahr und vor allem für junge Babys bis 6 Monate. Je älter das Kind wird, desto selbständiger wird es jedoch werden. Das bedeutet konkret: Es kann lernen, einen kurzen Moment zu warten, bevor sein Bedürfnis erfüllt wird. Jedoch gibt es auch hier Unterschiede. Manche Kinder sind eher dazu fähig als andere. Und wirklich schreien sollte kein Kind müssen.
Welche Persönlichkeit, welches Temperament und welchen Entwicklungsstand das jeweilige Kind hat, weiß meist die engste Bezugsperson am besten. Lass dich also nicht verunsichern. Vielleicht möchtest du noch mehr Argumente, warum man ein Baby nicht verwöhnen kann? Dann lies gern hier weiter:
Nur eines zum Schluss: Wir möchten denjenigen Eltern kein schlechtes Gewissen machen, die ihr Baby schreien lassen müssen, weil es sich einfach nicht beruhigen lässt oder weil sie am Ende ihrer Kräfte sind. Wenn du ein sogenanntes Schreibaby hast oder einfach nicht weiterweißt, hole dir am besten Hilfe bei deiner Hebamme oder Kinderarztpraxis, in einer Schreiambulanz oder in Form einer „frühen Hilfe“, für die es keinen Antrag braucht.
Quellen
- Max-Planck-Gesellschaft: Elterliche Zuwendung beeinflusst Oxytocin-Entwicklung beim Säugling: https://www.mpg.de/14007592/1016-nepf-132884-verhalten-der-mutter-beeinflusst-entwicklung-des-bindungshormons-beim-saeugling (abgerufen am 15.08.2023)
- Monique Maute: Dissertation „Remember the Time you Cried“ Schreienlassen im Säuglings- und Kleinkindalter und der Einfluss von emotionaler und körperlicher Zuwendung auf das kindliche Stressverhalten: https://kops.uni-konstanz.de/server/api/core/bitstreams/af59e78a-4ad6-4594-a6be-dc46b7c46820/content (abgerufen am 15.08.2023)
- Ask Dr. Sears: The Effects of Excessive Crying: https://www.askdrsears.com/topics/health-concerns/fussy-baby/science-excessive-crying-harmful/ (abgerufen am 15.08.2023)
- Springer: Resignation/Dissoziation des Säuglings statt gelungener Selbstregulation: https://link.springer.com/article/10.1007/s00112-018-0570-7 (abgerufen am 15.08.2023)
- Ansgar Hattke – psychotherapeutische Praxis: Unsicher-ambivalente Bindung: das zentrale Element der Zerrissenheit: https://www.ansgar-hantke.de/index.php/229-gesundheitsleistungen/psychotherapie/641-unsicher-ambivalente-bindung-das-zentrale-element-der-zerrissenheit (abgerufen am 15.08.2023)