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Früher war alles besser. Wirklich?

Kindheit früher und heute: War damals alles besser?

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Früher da spielten die Kinder noch auf der Straße. Sie brauchten nichts außer ein paar Murmeln, um glücklich und zufrieden stundenlang zu spielen. Frei und unbekümmert rannten Kinder damals in Scharen über Wiesen und Felder und konnten sich ganz natürlich entfalten. Anders heute – jedenfalls wenn man der negativen Berichterstattung Glauben schenkt. Heute leben Kinder eingepfercht in Zweizimmerwohnungen, wo sie den ganzen Tag am Handy ihrer Eltern daddeln und sehen nie das Sonnenlicht. Andere werden in Nicht-Coronazeiten von einem Kurs zum nächsten geschickt, um sich schon im zarten Alter von zwei Jahren auf eine prosperierende akademische Laufbahn vorzubereiten. Mal ehrlich, ist es wirklich so schlimm bestellt um unsere Kinder?

Kindheit in den Sechzigern

Meine Mutter hatte eine wunderschöne Kindheit in den Sechzigern. Tatsächlich hielten sie und ihre Freunde sich viel draußen auf, erlebten ihre Umwelt als Abenteuer und trieben dabei allerhand Schabernack. Tatsächlich waren Kinder in dieser Zeit mehr auf sich selbst gestellt und genossen einige Freiräume. Aber das ist nur eine Seite der Medaille. Nicht alles war rosig. Meine Mutter durfte noch im Grundschulalter nicht alleine Fahrrad fahren. Und das, obwohl es so gut wie keine Autos auf den Straßen gab. Meine Oma hatte Angst um ihre jüngste Tochter. Kurz nach dem Krieg war eines ihrer Kinder an einer Mittelohrentzündung gestorben. Wäre sie ein paar Jahre später geboren, hätten die Ärzte sie wahrscheinlich mit Antibiotika gerettet.

Geringe Kindersterblichkeit und hohe Lebenserwartung

Seit den 60er-Jahren hat die Säuglingssterblichkeit in Deutschland stetig abgenommen. Rund 36,5 von 1000 Kindern wurden nicht älter als ein Jahr. Heute sind es rund 3,2. Die Lebenserwartung eines heute geborenen Kindes ist deutlich höher. Ein 1960 geborener Mann wird im Schnitt 66,9 Jahre, eine Frau 72,4. Ein 2015 geborenes Kind wird über 10 Jahre länger leben, nämlich rund 78,4 Jahre (Jungen) beziehungsweise 83,4 Jahre (Mädchen). Dafür ist nicht nur die geringere Säuglings- und Kindersterblichkeit verantwortlich.

Heute profitieren wir von einem hervorragenden Gesundheitssystem, das allen Bevölkerungsgruppen, unabhängig von ihrem Einkommen und größtenteils kostenlos zur Verfügung steht. Seit Mitte der 70er-Jahre wurden Mutterschafts- und Vorsorgeuntersuchungen, die Betreuung von Risikoschwangerschaften sowie Vorsorgeuntersuchungen für Kinder bis zum 6. Lebensjahr sukzessive als kostenlose gesetzliche Leistungen eingeführt und haben maßgeblich zur Gesundheit von Müttern und Kindern beigetragen. Fortschritte in der Gynäkologie und Perinatalmedizin haben dazu geführt, dass heute Kinder das Licht der Welt erblicken, die es früher gar nicht geschafft hätten. Zwar liegt Deutschland nicht unter den 20 Ländern mit der geringsten Säuglingssterblichkeit. Das rührt aber unter anderem auch daher, dass hierzulande schon ganz jungen Frühgeborenen eine Chance gegeben wird – und viele schaffen es, dank hochmoderner medizinischer Ausstattungen.

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Erziehung und Kindergarten

Ich selbst bin in der DDR geboren. Wie viele Mütter in der DDR war auch meine Mutter berufstätig. Mit zarten sechs Monaten kam ich in den Kindergarten. Eine meiner prägendsten Erinnerungen an die spätere Kindergartenzeit: Der Tag, an dem ich den ganzen Tag vor meiner Käsestulle sitzen musste, die ich nicht essen wollte, während alle anderen Kinder draußen spielten. Das ist natürlich ein Einzelfall. Doch es ging rauer zu in den Kindergärten, das belegen etliche Berichte.

1990 traten die Kinderrechte in Kraft, die Kindern unter anderem das Recht auf selbstbestimmtes Spiel und Mitbestimmung einräumen. Das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung ist erst seit dem Jahr 2000 im Gesetzbuch verankert.

Etliche Methoden die früher als normal (und richtig) angesehen wurden, wie das Schreien lassen von Babys oder auch körperliche und emotionale Bestrafungen sind heute verpönt. Noch bis in die 1980er Jahre wurden medizinische Eingriffe an Babys teilweise ohne Schmerzmittel durchgeführt, weil man davon ausging, dass so junge Kinder noch keine Schmerzempfindungen hätten. Und über das Stillen gab es so einige Mythen, die heute längst überholt sind.

Heute heißen liegt der Fokus der frühkindlichen Erziehung auf Bindung und Beziehung. Wir haben keine Angst, unsere Säuglinge zu verwöhnen, sondern tragen sie liebevoll ganz eng am Körper. Und später schicken wir sie nicht allein auf ihr Zimmer, wenn etwas mal nicht nach Plan läuft. Wir unterstützen sie darin, sozialkompetente Wesen zu werden.

Schule

Vielleicht konnten Kinder früher freier Toben. Aber zumindest die Älteren hatten dafür weniger Zeit zur Verfügung als heute. Bis Anfang der 70er-Jahre besuchten Schulkinder nämlich auch Samstags die Schule. Am Sonntag stand dann bei Vielen noch der Kirchgang an. Kinder der neuen Bundesländer drückten noch bis 1990 Samstags die Schulbänke. Je weiter wir zurückgehen, desto geringer war die Chance, dass ein Mädchen später die Universität besuchen und einen Beruf erlernen und ausüben würde. Nur etwa ein Viertel aller Studierenden im Jahr 1965 war weiblich. Seit einigen Jahren sind es sogar über 50%. Aber nicht nur Mädchen schlugen damals seltener eine akademische Laufbahn ein. Erst mit Einführung des Bafög 1971 von Willi Brandt (SPD), war die Universität nicht mehr nur wohlhabenden Familien vorbehalten.

Unabhängige Mütter, aktive Väter

Und während die Mütter in der Regel die Hausarbeit erledigten, arbeiteten die Väter rund 48 Stunden an sechs Tagen in der Woche. Noch heute erledigen Frauen den größten Teil der unbezahlten Haus- und Familienarbeit. Und trotzdem haben wir in Sachen Gleichberechtigung in den Familien in den vergangenen Jahrzehnten immense Fortschritte gemacht. Heute ist es nicht mehr vorausgesetzt, dass Frauen von ihren Männern abhängig sind. Väter können heute ihre Kinder ganz intensiv beim Aufwachsen begleiten und das tun sie auch.

Wir können die Zeit nicht zurückdrehen

Ja, natürlich spielten früher mehr Kinder auf der Straße. Es gab ja auch viel weniger Autos. Wer wöchentlich seinen Großeinkauf mit dem Auto erledigt, regelmäßig mit den Kindern an die Ostsee fährt und vielfältigen Freizeitmöglichkeiten nachgeht, die eben mit dem Auto für Familien besser erreichbar sind, kann sich darüber kaum beschweren. Ändern können wir es sowieso nicht. Ja, früher tobten auch mehr Kinder allein im Wald und auf Wiesen herum. Würde ich mich heute dazu entschließen, mich wieder auf alte Werte zu besinnen, wäre mein Kind ziemlich einsam. Denn alle anderen besuchen die schönen Spielplätze, Tierparks und Abenteuerspielplätze, die es bei uns in der Gegend gibt.

Wir tendieren dazu, die Vergangenheit rosiger zu sehen als sie eigentlich war. Und das ist auch in Ordnung so. Aber wir sollten dadurch nicht verlernen, die Gegenwart zu schätzen und positive Veränderungen wahrzunehmen. In seinem beeindruckenden Buch Factfulness* beschreibt Hans Rosling, dass die Welt immer besser wird und wir es einfach nicht bemerken. Und das ist schade. Denn es gibt so viele Dinge, die uns heute das Familienleben erleichtern, für die wir dankbar sein können.

Jede Zeit hat ihre Herausforderungen

Ja, unsere Kinder haben viel zu viel Spielzeug. Das liegt nicht nur daran, dass wir Eltern blöder geworden sind. Es ist auch einfach ein Nebeneffekt unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Das ist nämlich genau darauf ausgelegt, dass wir immer mehr kaufen. Wir können uns heute mehr leisten. Unsere Kinder haben Privilegien, von denen frühere Generationen nur träumen können. Das ist nicht immer gut, aber wir müssen da ja auch reinwachsen, wenn wir Eltern werden. Denn weil wir gute Eltern sein wollen, glauben wir erstmal den zahlreichen Versprechen der Werbeindustrie, ein gesundes Kind bräuchte unbedingt dies und das und jenes.

Ja, wir haben heute ein Überangebot an Kursen, Förderprogrammen und Co. Aber wir müssen ja nicht jeden Kurs wahrnehmen. Und ehrlich gesagt kenne ich persönlich keine Eltern, deren Kinder fünf Tage die Woche in unterschiedlichen Frühfördermaßnahmen stecken, so wie ich es teilweise in den Medien lese. Ich kenne auch keine Eltern, deren Kinder rund um die Uhr fernsehen und am Handy daddeln. Die meisten halten es so wie wir und versuchen einen gesunden Mittelweg zu finden. Es bringt nämlich nichts den Fortschritt zu verteufeln. Er ist nämlich schon da. Und wenn alle anderen ihre Spielverabredungen per WhatsApp treffen, dann wird mein Kind einfach niemanden mehr zuhause antreffen, wenn es ganz oldschool einfach mal bei den Kumpels an der Tür klingelt.

Jeder macht es so gut er kann

Ich finde so manch einen Artikel, der uns Eltern auffordert, doch wieder wie früher zu erziehen, etwas weltfremd. Da wird uns gesagt, wir sollen weniger Schuldgefühle haben. Und zwar indem uns Schuldgefühle gemacht werden. Da wird auf die Eltern geschimpft, weil sie sich um die Ernährung ihrer Kinder sorgen. Ja klar war man früher unbeschwerter. Damals gab es ja auch viel weniger. Ernährung war lange nicht so komplex, es gab nicht gefühlte 200.000 Produkte zur Auswahl. Den Bäcker an der Ecke, bei dem ich als 6-Jährige die Brötchen holte, gibt es nicht mehr. Da ist jetzt eine stark befahrene Straße und ein überdimensionierter Supermarkt.

Ich lese meinem Kind jeden Abend Geschichten vor, so wie die meisten Eltern, die ich kenne. Manchmal schauen wir am Wochenende einen Film. Dabei kuschelt sich die ganze Familie aufs Sofa. Wir kochen gesund und manchmal gibt es auch Pommes oder Pizza, wie in vielen anderen Familien auch. Ich versuche die Herausforderungen, die uns Eltern heute begegnen, so gut es geht zu meistern: Eine komplexe auf Konsum ausgerichtete Welt, Lebensmittel die unsere Großeltern als solche nicht erkannt hätten, 1000 verschiedene Meinungen zum Thema Erziehung frei Haus per E-Mail und Push-Nachrichten… Anstatt auf uns zu schimpfen, dass wir nicht wie früher erziehen, würde ich mir doch etwas konstruktivere Kritik wünschen, die anerkennt, dass sich die Zeiten geändert haben.

Und dass mein Sohn mit drei Jahren noch nie einen Regenwurm gesehen hat, liegt nicht etwa daran, dass wir nicht draußen in der Natur spielen. Wir haben einfach noch nie einen gefunden, denn der Bestand dieser Bodenlebewesen ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. Soviel dazu…

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Quellen

✔ Inhaltlich geprüft am 12.05.2022
Dieser Artikel wurde von Janett Scheck geprüft. Wir nutzen für unsere Recherche nur vertrauenswürdige Quellen und legen diese auch offen. Mehr über unsere redaktionellen Grundsätze, wie wir unsere Inhalte regelmäßig prüfen und aktuell halten, erfährst du hier.

Veröffentlicht von Sibylle Grenz

Als Mutter eines quirligen Kleinkindes schreibt Sibylle leidenschaftlich gern über Erziehungsthemen, aber auch Themen aus der Schwangerschaft. Gemeinsam mit unserem Hebammen- und Pädagoginnen-Team arbeitet sie Fragen der babelli-Community auf und beantwortet sie fundiert und praxisnah.

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