Hast du schon mal vom Kristeller-Handgriff gehört, aber kannst dir nichts darunter vorstellen? Oder vielleicht wurde er bei dir auch angewendet, du kanntest aber bisher den Fachbegriff dafür nicht? Wir erklären dir, was es mit diesem Manöver auf sich hat, warum Fachgesellschaften es ablehnen und wieso es manchmal trotzdem zur Anwendung kommt.
Kristeller-Handgriff: Was ist das?
Als Kristeller-Handgriff oder -Manöver, oft auch Fundusdruck, bezeichnet man in der Gynäkologie eine Methode, um die stagnierende Geburt voranzutreiben. Entwickelt wurde sie Mitte des 19. Jahrhunderts vom deutschen Geburtshelfer Samuel Kristeller. Dabei geht es darum, während einer Wehe Druck von außen auf den oberen Punkt der Gebärmutter auszuüben und so dabei zu helfen, das Baby schneller durch den Geburtskanal zu schieben.
Ziele des Kristeller-Hangriffs
Auch heute ist das Manöver noch weitverbreitet, mit dem Ziel, eine verzögerte Austreibungsphase zu beschleunigen. Ein typisches Szenario dafür ist, wenn der Kopf des Babys den Austritt nicht schafft und stattdessen vor und zurück pendelt. Dafür kann es verschiedene Gründe geben, wie eine Wehenschwäche (z. B. durch eine PDA), eine zunehmende Erschöpfung der Mutter oder ungünstige Geburtslagen. Ist kein Weiterkommen in Sicht und werden die Herztöne des Babys schlechter, müssen die Geburtshelfer eingreifen. Um einen Kaiserschnitt (falls er überhaupt noch möglich wäre) oder den Einsatz von Dammschnitt, Saugglocke oder Geburtszange zu vermeiden, entscheiden sich einige von ihnen zum Kristeller-Handgriff.
Wie funktioniert der Kristeller-Handgriff?
In der Theorie wird der Kristeller-Handgriff zwar mit Kraft, aber auch mit Vorsicht und Gefühl ausgeführt. Der Geburtshelfer oder die Geburtshelferin nutzen dafür eine oder zwei Hände, erspüren den oberen Gebärmutterpol (Fundus uteri) und schieben ihn wehensynchron, sanft, aber bestimmt, mit ansteigendem Druck in Richtung Geburtskanal. Manchmal wird dafür auch ein spezieller Gurt genutzt, der sich beim Aufbau einer Wehe aufbläst und so den gewünschten Druck ausübt.
In der Praxis erleben das viele Frauen und Männer aber leider ganz anders: Der oder die Anwenderin knien mitunter auf dem Bett, pressen mehrfach mit voller Kraft und Körpereinsatz auf den mütterlichen Bauch, nutzen dafür teilweise den Ellenbogen oder den Unterarm. Manchmal kommt auch ein Bettlaken zum Einsatz, an dem sich der Geburtshelfer festhält, um noch mehr Kraft aufbauen zu können. Zum Teil liest man auch von mehreren Hebammen und Ärzten, die abwechselnd oder gleichzeitig Druck auf den erschöpften Körper der Mutter ausüben.
Geburtshilfe oder „Gewalt unter der Geburt“?
Zu Kristellers Zeiten, in denen die Geburtsmedizin weder einen Kaiserschnitt noch andere sichere geburtshilfliche Maßnahmen in petto hatte, war das Kristeller-Manöver oft die einzige Möglichkeit, Mutter und Kind bei einer stagnierenden Geburt zu unterstützen. Heute ist das „Kristellern“ jedoch stark umstritten. Der Grund: Es gibt kaum bis keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass der Handgriff die Geburt wirklich beschleunigen kann. Dem gegenüber stehen jedoch Verletzungsrisiken, insbesondere für die Mutter. Nicht zuletzt kann die Erfahrung einer falschen und groben Anwendung Mütter (und Väter) nachhaltig traumatisieren. Vor allem dann, wenn zuvor keine Aufklärung über die Prozedur erfolgte.
In den Richtlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Geburtshilfe heißt es deshalb: „Der Einsatz von manuellem Fundusdruck zur Erleichterung der Geburt in der zweiten Geburtsphase wird nicht empfohlen.“
Auch beim Blick in aktuelle Fachbücher und auf die derzeitige Datenlage lautet der überwiegende Tonus: Der Kristeller-Handgriff schadet mehr, als er Gutes tut. Einige Stimmen gehen sogar so weit, ihn als Gewalt an der gebärenden Mutter zu bezeichnen. In Teilen der USA und einigen Ländern der EU ist das Kristeller-Manöver ganz und gar verboten oder wird nicht mehr angewendet. Der Wunsch nach einem generellen Verbot oder wenigstens einem standardisierten Vorgehen und einer exakten Dokumentationspflicht sind häufig auch das Fazit internationaler Studien.
Wie sieht es in Deutschland aus?
Entsprechend der geltenden S3-Leitlinien zur ‚Vaginalen Geburt am Termin‘ darf der Kristeller-Handgriff in deutschen Kliniken zum Einsatz kommen. Dort lautet es etwas defensiver als bei der WHO: „Der Fundusdruck sollte möglichst nicht ausgeübt werden. Nur unter strenger Indikationsstellung kann diese Maßnahme erwogen werden.“
Folgende Bedingungen müssen dafür gegeben sein:
- vollständig geöffneter Muttermund (10 cm)
- Anwendung nur in der späten Austreibungsphase
- wehensynchrone Ausführung
- möglichst manueller Druck auf den Fundus (heißt, die Hände verwenden)
Hiesige Chef- und Oberärzte und -ärztinnen haben die Möglichkeit, das Kristellern in ihren gynäkologischen Abteilungen zu untersagen. In diesen Geburtskliniken wird der Handgriff dann ganz sicher nicht zum Einsatz kommen.
Kristeller-Manöver: Risiken und Kritik
Ein großes Problem ist, dass es für den Kristeller-Handgriff weder eine klare Indikation (also einen Grund) noch eine fest vorgeschriebene Vorgehensweise gibt. Je nach Erfahrung und Einstellung des Geburtshelfers kann das Manöver deshalb mehr oder weniger grob ausfallen. Wobei es aber immer mit großem Druck verbunden ist, auch bei der sanftesten Ausübung.
Berichte von Frauen, wie: „Dann warf er/sie sich mit voller Wucht auf meinen Bauch, ich bekam keine Luft mehr und dachte, ich müsste sterben“ sind leider keine Seltenheit. Auch Väter erzählen immer wieder vom schockierenden Anblick einer „Misshandlung“ ihrer gebärenden Partnerin.
Abgesehen von den Schmerzen und dem psychologischen Unbehagen der Mutter während und nach der Anwendung, kann es dabei zu Atemnot sowie Übelkeit und Erbrechen kommen. Weitere Risiken, die mit dem Kristeller-Handgriff in Verbindung gebracht werden, sind:
- ein Dammriss höheren Grades
- ein Gebärmutterriss
- Frakturen an Brustbein und Rippen
- Hämatome
Erhöhte Risiken für Schäden des Baby sind bisher nicht belegt. Denkbar wären bei einer grob fahrlässigen Durchführung aber:
- Sauerstoffmangel durch Kompression der Plazenta oder Nabelschnur
- Stauchungen der Wirbelsäule
- Stress
- ein Hängenbleiben der Schultern am Beckenausgang (Schulterdystokie)
Die Initiative GreenBirth weist zudem darauf hin, dass eine mögliche Folge eine erschwerte Mutter-Kind-Bindung ist, aufgrund der traumatischen Geburt und der hormonellen Stressreaktionen der Mutter.
Die aktuelle Datenlage: Unklare Benefits, aber mögliche Risiken
Allerdings: Die aktuelle Datenlage zum Kristeller-Handgriff ist bisher schwach. Zwar wurde das Kristellern schon vielfach untersucht, allerdings lassen sich die Ergebnisse aufgrund unterschiedlicher Studiendesigns schlecht miteinander vergleichen. Zudem sind die gefundenen Zusammenhänge meist nicht signifikant genug, um klare Schlüsse zu ziehen.
Das heißt, bisher scheint es nicht so, dass der Kristeller-Handgriff wirklich
- den Geburtsvorgang beschleunigen,
- einen Dammschnitt sowie den Einsatz von Saugglocke oder Zange verhindern,
- die Kaiserschnittrate senken und
- den Apgar-Wert oder ph-Wert des fetalen Blutes aus der Nabelschnur verbessern kann.
Etwas stärker, aber immer noch schwach ist die Datenlage in Bezug auf die möglichen Risiken und Gefahren (siehe oben). Allerdings weist die Forschungsgesellschaft Cochrane auch dabei darauf hin, dass die Berichte über Komplikationen hauptsächlich „anekdotischer Natur und von der Kausalität her unklar sind“. Will heißen: Aktuell fehlen stichhaltige Beweise und Erfahrungsberichte allein reichen nicht, um wissenschaftliche Empfehlungen auszusprechen.
Stattdessen wünschen sich die Cochrane Experten und -expertinnen sowie viele andere Studienleiter und -leiterinnen mehr und bessere Untersuchungen zum Kristeller-Manöver. Bis dahin sollten Geburtshelfer das Nutzen-Risiko-Verhältnis vor dem Eingriff sorgfältig abwägen und höchste Vorsicht bei der Durchführung walten lassen.
Aber: Nicht immer bedeutet Kristellern = Trauma
Puh, das klingt ja alles angsteinflößend. Was du aber auch wissen musst: Es gibt nicht nur negative Erfahrungsberichte. Viele betroffene Mütter stehen dem Kristellern auch neutral oder sogar positiv gegenüber. Sie waren zum Zeitpunkt der Anwendung dankbar für jede Unterstützung. Und immer wieder liest man auch, dass das Baby schließlich endlich herauskam und die Mütter unendlich erleichtert waren. Und das ganz ohne Verletzungen oder Traumata davon getragen zu haben. Nicht immer wird der manuelle Fundusdruck von den Müttern als brutal und rücksichtslos empfunden. Es hängt wohl auch viel von der Situation und dem Geburtshelfer-Team ab, wie gebärende Mütter den Handgriff erleben.
Als besonders übergriffig werden aber vor allem die Situationen empfunden, in denen die Mutter nicht darauf vorbereitet wurde. Nachvollziehbar! Das sollte allerdings niemals der Fall sein. Leider scheint es jedoch einige schwarze Schafe in der Geburtshilfe zu geben. Die S3-Leitlinien sehen jedenfalls:
- das Einholen des Einverständnisses der Gebärenden,
- ein Veto-Recht der Gebärenden sowie
- eine kontinuierliche Kommunikation zwischen Geburtshelfer-Team, Gebärender und Begleitperson vor.
Fazit zum Kristeller-Handgriff
Alles in allem ist der Kristeller-Handgriff in der Geburtshilfe offiziell verpönt, sicher nicht ganz zu Unrecht. Dennoch scheint er hierzulande noch verbreitet zum Einsatz zu kommen. Sowohl seine Vorteile als auch seine Risiken sind bis heute jedoch unklar.
Wenn du dir für deine bevorstehende Geburt Sorgen machst, sprich das Thema im Aufnahmegespräch in der Klinik an und frage, wie es dort mit dem Kristeller-Handgriff gehalten wird. Wenn du ihn ablehnst, kannst du es dem Geburtshelfer-Team vor Ort mitteilen und in deinen Geburtsplan aufnehmen. Auch während der Geburt hast du ein Veto-Recht.
Hast du noch Fragen zum Kristeller-Handgriff? Wie sind deine Gedanken dazu? Wurde er bei dir bereits angewendet? Berichte uns von deinen Erfahrungen in den Kommentaren!
Quellen
- DGGG, DGHW: S3 Leitlinie Vaginale Geburt am Termin – Stand 2020
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